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Wünsche nach Rückkehr vor der Geburt hatten. (Das hermaphroditische „Avant nach rückwärts“.)

Auch unsere Patientin suchte als Kind und Mädchen diese Anlehnung an den Vater, der sie nicht wenig verhätschelte. Die Mutter war, wie Mütter leider häufig, den Brüdern mehr zugetan. Auch dieser Zug erweist sich letzter Linie als durch die Höherschätzung des männlichen Prinzips bedingt, dem sich der Vater als Mann leichter entschlagen kann. Insbesondere merkte Patientin bald, dass die Sorge des Vaters erheblich zunahm, sobald sie sich unwohl fühlte. Sie kam deshalb auch zu einer besonderen Vorliebe für das Kranksein, das ihr weitere Verzärtelungen, Liebe und Näschereien eintrug. Dies muss für sie wohl den geeignetsten Ersatz für die verloren geglaubte Männlichkeit bedeutet haben, dass sie die unumschränkte Herrscherin im Hause wurde, alle Wünsche befriedigen, auch unangenehmen Begegnungen in der Schule und in Gesellschaften ausweichen konnte, sobald sie sich krank fühlte. Ja es bedeutete die höchste zu erreichende Potenz ihres Sicherheitsgefühls, sobald sie der Vater krank glaubte. Und sie tat zuweilen mit Absicht so, als ob sie krank wäre, das heisst, sie simulierte oder übertrieb.

Diese Tatsache der Simulation in der Kindheit findet sich ungemein häufig in der Vorgeschichte der Neurotiker. Ich habe in umfänglicher Weise auf diese Erscheinung (in der „Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie“ l. c.) aufmerksam gemacht und habe erwähnt, wie sich das Kind taub, blind, dumm, verrückt etc. stellte. Auch E. Jones erwähnt diese Tatsache in seiner „Hamletstudie“, und verweist auf die Analogie der Verstellung Hamlets mit der in der Kindheit. Historische Beispiele, wie Saul, Claudius u. a., gibt es genug, und sie zeigen uns das Problem in seiner Reinkultur. Immer ist der beherrschende Gedanke dabei: wie sichere ich mich vor einer Gefahr, wie kann ich eine Niederlage vermeiden? Es ist klar, dass der Neurotiker, der nach der Analogie „Mann-Weib“ apperzipiert, in der Beherrschung einer Situation ein männliches Äquivalent erblickt, einen Ersatz und Schutz für den drohenden Verlust der Männlichkeit. Und die Technik der Simulation besteht darin, dass die Person eine Fiktion aufstellt und ihr gemäss handelt, als ob sie den entsprechenden Defekt hätte, während sie weiss und daran festhält, dass sie ihn nicht hat. Das psychisch bedingte, neurotische Symptom kommt nun, behaupten wir, in der gleichen Weise zustande, nur mit dem Unterschied, dass die Fiktion nicht als Fiktion erkannt, sondern für wahr, für echt gehalten wird.[1] Wie so oft kann uns die beste Einsicht in diesen Zusammenhang nicht das neurotische Symptom, sondern ein Grenzfall liefern, der in der Mitte zwischen beiden Erscheinungen liegt. Wir meinen die Psychologie des Mitleids. Wir sind imstande das Leid eines anderen so mitzufühlen, als ob es unsere eigene körperliche Sphäre beträfe. Ja wir können sogar das Leid eines andern vorausfühlen, bevor es noch eingetreten ist. Bekannte Beispiele dafür sind die ziehenden, ängstlichen Gefühle mancher Menschen, wenn sie andere, Dienstmädchen, Dachdecker oder Zirkuskünstler in gefahrdrohender Situation erblicken, oder auch nur daran denken. Es betrifft dies Symptom zumeist Personen, die an Höhenangst


  1. S. Theoretischer Teil: III. Kapitel. „Die verstärkte Fiktion“.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/146&oldid=- (Version vom 31.7.2018)