zu masochistischer Unterwerfung oder Koketterie, Gefallsucht und fortwährenden Liebeleien bei weiblichen Patienten. Immer wird man Züge oder verräterische Spuren nebenbei finden, dass auch in diesen Fällen die leitende männliche Fiktion allmächtig ist und auf diesen Umwegen ihr Ziel zu erreichen sucht. — Die Erhöhung der Sexualerregung in manchen dieser Fällen ist nicht als echt, etwa als konstitutionell gegeben zu verstehen, sondern zeigt sich gebunden an die Fiktion und kommt zustande durch ununterbrochene tendenziöse Aufmerksamkeit, die auf Erotik gerichtet ist. Dasselbe gilt von Perversionen und scheinbar herabgesetzter Libido, die auf neurotischen Umwegen konstruiert werden. Alle Sexualbeziehungen in der Neurose sind nur ein Gleichnis.
Die Furcht vor der Überlegenheit des Mannes und der entwertende Kampf gegen ihn kleidet sich oft infolge der gegensätzlichen neurotischen Perspektive in Entmannungsphantasien, die den Mann entwerten sollen. In Träumen dieser Patientinnen liegt dies klar zutage und lässt sich durch gleichzeitige andersartige Entwertungen in unserem Sinne erweisen. Einer dieser Träume sei hier angeführt, Die Patientin kam kurz nach einer Fisteloperation wegen eines Zwangsgedankens und wegen Aufregungszuständen in meine Behandlung, Der Zwangsgedanke lautete: „ich werde nichts erreichen können“. Schon bei unserem ersten Zusammentreffen äusserte sie Zweifel, ob ich etwas erreichen werde. Die gleiche Linie der Entwertung beleuchtete ihr Traum. Sie träumte:
„Ich rief im Traume: Marie, die Fistel ist schon wieder da!“
Der Operateur hatte ihr völlige Heilung versprochen und hat auch Wort gehalten. Er ist ihr in mancher Hinsicht verpflichtet und wollte kein Honorar nehmen. Patientin regte sich darüber sehr auf und empfand dies als Herabsetzung. Sie quälte sich einige Zeit mit Gedanken, wie sie ihrer Schuld ledig werden sollte. Marie heisst ihr Dienstbote, mit dem sie nie über die Operation gesprochen hatte. Käme es zu einem neuerlichen Aufbruch der Fistel, so wäre ihr erster Gang zu dem Operateur, dem sie ihre Meinung sagen würde. Marie, ein weiblicher Dienstbote, ist der Operateur. Patientin setzt den Fall, den ihr männliches Selbstgefühl braucht, der Arzt hat schlecht operiert, hat sein Wort nicht gehalten, ist ein Weib und Dienstbote zugleich. Dies die Art, wie sie alles erreichen könnte: wenn sie ein Mann wäre.
Wenn man die veröffentlichten Analysen welcher psychologischen Schule immer darauf untersucht, wird man regelmässig den Mechanismus des neurotischen männlichen Protestes darin finden. Ich will aus der Analyse eines Falles von Migräne diesen Zusammenhang nochmals hervorheben.
Aus ihrer Kindheitsperiode erzählte Pat. sofort, dass sie stets mit den älteren Brüdern in Streit lebte, weil sie sie beherrschen wollte. Derartige Erinnerungsspuren leiten, sobald sie freiwillig preisgegeben werden, regelmässig auf einen verborgenen Kampf gegen die männliche Vorherrschaft. Und man wird sich nie in der Voraussetzung täuschen, dass auch andere Charakterzüge auf diesen Kampf, es dem Manne gleich zu tun, hinweisen. Unbeeinflusst fährt unsere Patientin fort zu erzählen, dass sie fast ausschliesslich mit Knaben spielte und von ihnen „wie ihresgleichen behandelt
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/142&oldid=- (Version vom 31.7.2018)