treibende Kräfte angesetzt hatte. Wir erkennen in dieser infantilen Arbeitsweise, in der ausgedehnten Anwendung von sichernden Hilfskonstruktionen, als die wir die neurotische Fiktion anzusehen haben, in dieser allseitigen, weit zurück reichenden motorischen Vorbereitung, in der starken Abstraktions- und Symbolisierungstendenz die zweckmässigen Mittel des Neurotikers, der zu seiner Sicherheit gelangen will, zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, zum männlichen Protest.
Knüpfen wir an diese kritischen Bemerkungen die Frage an, wie die neurotischen Erscheinungen zustande gekommen sind, warum der Patient ein Mann sein will, und fortwährend Beweise dafür zu erbringen sucht, woher er das stärkere Bedürfnis nach Persönlichkeitsgefühl hat, warum er solche Aufwendungen macht, um zur Sicherung zu gelangen, kurz die Frage nach dem letzten Grund dieser Kunstgriffe der neurotischen Psyche, so lässt sich erraten, was jede Untersuchung ergibt: am Anfang der Entwicklung zur Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und verlangt mit Macht eine leitende, sichernde, beruhigende Zwecksetzung, um das Leben erträglich zu machen. Was wir das Wesen der Neurose nennen, besteht aus dem vermehrten Aufwand der verfügbaren psychischen Mittel. Unter diesen ragen besonders hervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen im Denken, Handeln und Wollen.
Es ist klar, dass eine derartige, in besonderer Anspannung zum Zweck der Persönlichkeitserhöhung gerichtete Psyche sich auch, abgesehen von eindeutigen nervösen Symptomen, durch eine nachweisbare Erschwerung der Einfügung in die Gesellschaft auffällig machen wird. Das Gefühl des schwachen Punktes beherrscht den Nervösen so sehr, dass er, oft ohne es zu merken, den schützenden Überbau mit Anspannung aller Kräfte bewerkstelligt. Dabei schärft sich seine Empfindlichkeit, er lernt auf Zusammenhänge achten, die Anderen noch entgehen, er übertreibt seine Vorsicht, fängt am Beginne einer Tat oder eines Erleidens alle möglichen Folgen vorauszuahnen an, er versucht weiter zu hören, weiter zu sehen, wird kleinlich, unersättlich, sparsam, sucht die Grenzen seines Einflusses und seiner Macht immer weiter über Zeit und Raum zu spannen, — und verliert dabei die Unbefangenheit und Gemütsruhe, die erst die psychische Gesundheit verbürgen. Immer mehr steigert sich sein Misstrauen gegen sich und gegen die Andern, sein Neid, sein boshaftes Wesen, aggressive und grausame Neigungen nehmen überhand, die ihm das Übergewicht gegenüber seiner Umgebung verschaffen sollen, oder er versucht durch vermehrten Gehorsam, durch Unterwerfung und Demut, die nicht selten in masochistische Züge ausarten, den Andern zu fesseln, zu erobern; beides also, erhöhte Aktivität wie vermehrte Passivität, sind Kunstgriffe, die vom fiktiven Zweck der Machterhöhung, des „Obenseinwollens“, des männlichen Protestes aus eingeleitet werden.
Damit sind wir zu jenen psychischen Erscheinungen vorgedrungen, deren Erörterung den Inhalt dieser Arbeit bilden soll, zum neurotischen Charakter. Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre. Aber der neurotische Charakter ist auffallend und weiterreichend, wenngleich er zuweilen erst durch die Analyse für den Arzt und den Patienten verständlich wird. Er ist ununterbrochen
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/14&oldid=- (Version vom 31.7.2018)