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in irgend einer Weise untergeordnet. Eine Identifizierung von Männlichkeit mit Sexualität kommt in der Neurose durch Abstraktion, Symbolisierung und bildliche Organsprache zustande, und dieser fälschende Kunstgriff des Nervösen füllt seinen Gedankeninhalt mit sexuellen Bildern.

Die Rechthaberei und versteckte Streitsucht, die mit der Entwertungstendenz in innigster Verbindung stehen, stellen den Psychotherapeuten vor schwere taktische und pädagogische Probleme. Sie verraten in jedem Falle den schwachen Punkt, das Minderwertigkeitsgefühl des Patienten, das ihn zur Kompensation treibt. Eine einfache Anschauungsweise gibt uns ein Hilfsmittel an die Hand, die neurotische Aggression des Patienten in jedem Falle zu entlarven. Man stelle sich vor, dass der Nervöse sich um seine volle Männlichkeit gebracht, sich verkürzt fühle und beobachte nun, durch welche Kunstgriffe er seine Ergänzung oder Überkompensation durchzuführen versucht. Man wird dann leicht eine Anzahl von Bereitschaften, Charakteren, Syndrome und Symptome finden, die ein ideelles Organ vorstellen können, muss aber darauf gefasst sein, wie vor ein Rätsel gestellt zu sein, das erst entziffert werden soll. Denn dieses ideelle Organ, eben die Neurose oder Psychose, ist wohl männlicher Herkunft und trägt in sich die Bestimmung, das Persönlichkeitsgefühl des Patienten nicht sinken zu lassen, ihn vielmehr seinem männlichen Endziel nahe zu bringen. Aber die rauhe Wirklichkeit versagt sich dem Werben dieser Fiktion so sehr, dass die absonderlichsten Umwege gewählt werden müssen, dass Teil- und Scheinerfolge angestrebt werden, fast immer ohne dass der Patient seinem Endziele näher kommt. Und immer wieder steigert sich ohne die Hilfe des Psychotherapeuten, der in seltenen Fällen durch die Schicksale des Lebens vertreten werden kann, bei Misserfolgen dieser „Wille zum Schein“ und verstärkt die abstrakten, prinzipiellen Linien der alten, leitenden Fiktion. Einer der hauptsächlichsten Umwege, auf denen dieses ideelle Organ, — eben der männliche Protest, — wirkt, ist die Entwertungstendenz. Von ihr war deshalb so oft die Rede, weil sie für den Arzt und dem Arzte gegenüber leicht ins Auge fällt und immer die Stärke des neurotischen Bestrebens zum Ausdruck bringt. Sie ist auch der stetig vorhandene Anknüpfungspunkt, um dem Patienten die Selbsteinsicht zu verschaffen, und sie liegt auch jener Erscheinung zugrunde, die Freud als Widerstand beschrieben und irrtümlich als Folge der Verdrängung sexueller Regungen aufgefasst hat. Mit ihr kommt der Nervöse zum Arzt und sie trägt er, wie der „Normale“ auch, erheblich geschwächt, wenn er die Behandlung verlässt, nach Hause. Nur dass seine gesteigerte Selbsteinsicht dann wie ein Wächter vor ihren Äusserungen steht, und so den Patienten zwingt seiner Sehnsucht nach „oben“ andere Wege zu weisen.

Man darf nicht davor zurückschrecken, Ausserungen des Zweifels, der Kritik, Vergesslichkeit, Verspätungen, allerlei Forderungen des Patienten, Verschlechterungen nach anfänglicher Besserung, beharrliches Schweigen ebenso wie zähes Festhalten von Symptomen als wirksame Mittel der auch gegen den Psychotherapeuten gerichteten Entwertungstendenz aufzugreifen. Man wird dabei kaum je fehlgehen und wird meist durch die Koinzidenz gleichgerichteter tendenziöser Erscheinungen und durch deren Vergleichung in dieser Auffassung gerechtfertigt

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)