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sich fort in gleichgerichtete Grössenphantasien, beides Ausdrucksformen seines männlichen Protestes. Als Bild und Anschauungsform für seine Minderwertigkeit und weibliche Artung galt ihm die vermeintliche, übertrieben empfundene Kleinheit seiner Genitalien. Seit seiner Kindheit suchte er alle seine misslungenen Anschläge und seine Niederlagen unter dem Bild des ursächlichen kleinen Penis zu bringen, apperzipierte auch alle seine Erlebnisse und gruppierte sie nach dieser Richtung und der damit zusammenhängenden gegensätzlichen Anschauungsform von „männlich-weiblich“. Der „kleine Penis“ war für ihn der bildliche Grenzbegriff zwischen männlich und weiblich, und zeigte sich wie die Haltung des Patienten auf der Idee eines körperlichen und psychischen Hermaphroditismus und seiner Tragik aufgebaut. Kein Wunder, dass man in der psychologischen Analyse dieser Fälle mit der männlich-weiblichen Apperzeptionsweise, die zu den Grundlagen der neurotischen Psyche gehört, auf lauter sexuelle Relationen stösst. Sie sind alle als Modus dicendi, als Jargon und bildliche Ausdrucksweise zu verstehen und dementsprechend aufzulösen, wobei Kraft, Sieg, Triumph in männlicher Sexualsymbolik, Niederlage in weiblicher, die neurotischen Kunstgriffe in beiden zugleich, zumeist auch in perverser oder hermaphroditischer Symbolik zum Ausdruck kommen.

Bei unserem Patienten war leicht zu erraten, dass er ausser der sexuellen Ausdrucksweise auch noch eine Apperzeptionsweise auf der gegensätzlichen Anschauung des Ein- und Ausatmens hatte, die durch die Minderwertigkeit seiner Atmungsorgane, der Nase mit einbegriffen, angeregt worden war. Auch die zu unserer gegenseitigen Verständigung dienende Sprache bedient sich solcher Bilder, und ein Seufzer der Erleichterung aus gepresster Brust kann ganz gut in das Bild gekleidet werden, als ob man wieder Luft hätte. Auch eine Hetzjagd um den Vorrang, die Begierde, der Erste am Ziel zu sein, vermochte Patient „pantomimisch“ in Erinnerung an den Wettlauf in den Knabenjahren durch keuchendes Atmen darzustellen. In einem Traum aus der letzten Zeit der Behandlung bedient er sich der bildlich zu verstehenden Fähigkeit zu pfeifen, um seine Männlichkeit „respiratorisch“ hervorzuheben. Der Traum lautet:

„Mir war, als ob 4 Leute pfiffen. Ich merke, dass ich es ebenso gut kann.“ Kurz vorher hatte er eine Beziehung zur Gouvernante in der Familie seines verheirateten Bruders angeknüpft, und hatte an sie die Frage gestellt, ob sein Bruder des Nachts oft die Frau besuche. Das Mädchen gab eine verneinende Antwort. Pfeifen können ist das Ideal aller kleinen Knaben, und auch Mädchen bemühen sich oft, diese männliche Attitude herauszubringen. In diesem Traume nimmt er probeweise einen Vergleich vor, ob er den männlichen Angehörigen seiner Familie gewachsen sei, und kommt von dieser seinem Weibempfinden entstammenden Linie zum männlichen Protest: er sei allen Vieren gewachsen.

Auch in diesem Falle fand ich meine Beobachtung bestätigt, dass der Nervöse seine sexuelle Libido nach der Art und Grösse empfindet, ebenso darstellen kann, wie es sein fiktives Endziel verlangt, sodass jede psychologische Auffassung haltlos wird, welche den Faktor der Libido als konstitutionell gegeben und in seinen Abwandlungen und Schicksalen das Wesen der Neurose erblickt. Insbesondere sind Sexualwünsche und Erregungen leicht zu arrangieren und stets dem männlichen Protest

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)