zum Gefühl der vollendeten Männlichkeit zu kommen. Einer meiner Patienten, der an Asthma nervosum litt, brachte diese Dynamik mit grosser Deutlichkeit zur Anschauung. Er war ein schwächliches Kind gewesen und hatte, — ein Zusammenhang, auf den Strümpell hingewiesen hat, — an exsudativer Diathese gelitten. Seine häufigen Katarrhe ermöglichten ihm frühzeitig, die Mutter in seinen Dienst zu stellen. Sie nahm ihn zu sich, pflegte ihn in ihrem Schlafzimmer und fügte sich seinen Wünschen. Er kam frühzeitig unter die Aufsicht einer strengen Gouvernante, der er trotz seines Jähzornes und seiner Unbändigkeit nicht gewachsen war. Ihr gegenüber fühlte er sich schwach und lernte so die Wege kindlicher Schlauheit kennen, auf denen er sich der strengen Gouvernante entzog, und zwar durch Simulation und Übertreibung der katarrhalischen Beschwerden, durch das Arrangement von Husten und anfänglich willkürlichen Reizungen der Kehlkopf- und Luftröhrenschleimhaut mittelst eines eigenartigen forcierten Atmens, durch asthmatische Erscheinungen, die er nach dem Bilde des Pressens beim erschwerten Stuhlgang durch Anspannung der Bauchpresse und starken Verschluss des Anus erzeugte. Er lernte bald verstehen, dass er bei solchen Erscheinungen ins Schlafzimmer der Mutter kam, und brachte im Laufe der Jahre eine asthmatische Bereitschaft zustande, die er jederzeit unbewusst aktivieren konnte, wenn er, der ein überspanntes fiktives Leitziel mit sich trug, sich zum Beherrrscher des Hauses, damit auch der Gouvernante, aufschwingen wollte. Bald erreichte er auch, dass ein Verbot an die Gouvernante erging, nach welchem er nicht strenge behandelt oder geschlagen werden durfte.
Wir sehen, wie sein Persönlichkeitsideal nunmehr über eine allerdings neurotische Waffe verfügte, die ihn in den Stand setzte, einer Niederlage, dem auftauchenden Gefühl seiner ursprünglichen Minderwertigkeit dadurch zu entkommen, dass er auf einem Umweg, nicht mehr durch Trotz, Jähzorn, Mut, Mannhaftigkeit, sondern durch eine Art List, Verschlagenheit, unmännliches Verhalten, Feigheit und Anlehnung an die Mutter obenauf zu sein trachtete. Dieser Winkelzug, hypostasiert und zu einem unbewusst wirkenden Bereitschaftsmechanismus verarbeitet, gab ihm die fürs Leben nötige Sicherung. Sein neurotisches Symptom, das durch weitere Hilfslinien seiner Charakterzüge, Alles haben zu wollen, durch seine Herrschsucht, durch seinen Starrsinn und durch seine Rechthaberei, gleichzeitig durch Feigheit, Furcht vor neuen Unternehmungen, Furcht vor Männern und Frauen und durch die aus ihr sich stets belebende Entwertungstendenz behütet und beansprucht wurde, das im Bunde seiner Aggressionsbereitschaften eine so wichtige Rolle spielte, ergab für ihn ein neues Organ, ein Mittel sich auf besondere Weise geltend zu machen, sich seiner Welt zu bemächtigen, indem er stets die Mutter als Schutz begehren konnte. Bei ihr fühlte er sich sicher wie bei keiner Frau, und so kam er aus Not zu einer Verliebtheit in seine Mutter, die näher betrachtet sich in Tyrannei auflöste. Schwangerschaftsphantasien spiegelten ihm das erniedrigende Empfinden einer weiblichen Rolle vor, und konnten mit Kastrationsgedanken sowie mit Phantasien ein Weib zu sein abwechseln. Sein Masturbationszwang zeigt den Versuch, sich siegreich von der Frau zu emanzipieren, einer Niederlage zu entgehen, sich männlich zu geberden, und setzte
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/137&oldid=- (Version vom 31.7.2018)