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IV. Kapitel.
Entwertungstendenz. — Trotz und Wildheit. — Sexualbeziehungen des Nervösen als Gleichnis. — Symbolische Entmannung. — Gefühl der Verkürztheit. — Der Lebensplan der Manngleichheit. — Simulation und Neurose. — Ersatz der Männlichkeit. — Ungeduld, Unzufriedenheit und Verschlossenheit.

Das zwanghafte Streben des Nervösen, sein Persönlichkeitsideal mit den höher gewerteten männlichen Zügen zu erfüllen, treibt ihn insbesondere wegen der Hindernisse der Realität zum Formenwandel seiner leitenden Richtungslinien, so dass er auf Umwegen ein dem männlichen gleichwertiges Ziel zu erreichen sucht. Was ihn in die Irre führt, ist sein Sehnen und Drängen, ein unerfüllbares Ideal für sich zu realisieren. Kommt dann auf der Hauptlinie des männlichen Protestes die Niederlage oder ein Vorgefühl derselben, so sucht er auf Umwegen unter Arrangement verstärkter sichernder Kunstgriffe dieses vorläufig als gleichwertig empfundene Ersatzziel. An diesem Punkte beginnt in der Regel jener Prozess der psychischen Umgestaltung, den wir Neurose nennen, sofern nicht die leitende Fiktion zur Vergewaltigung der Wirklichkeit führt, sondern der Patient letztere nur als störend empfindet, wie in der Neurasthenie, Hypochondrie, Angst- und Zwangsneurose und in der Hysterie. In der Psychose tritt die leitende männliche Fiktion, in Bilder und Symbole kindlicher Herkunft gekleidet, hervor. Der Patient benimmt sich dann nicht mehr wie in der Neurose, als ob er männlich, oben sein wollte und dies mit allen Mitteln versuchte, sondern durch den Kunstgriff der Antizipation so, als ob er es bereits wäre, und weist nur nebenbei, in der Regel anfangs, wie zur Begründung (Depression, Verfolgungsideen, Versündigungs-, Verarmungswahn) darauf hin, dass er „unten“, unmännlich, weiblich sei.

Der Übersichtlichkeit halber gehe ich nun an die Schilderung einiger Charakterzüge bei Nervösen, die entweder geradlinig dem mit männlichem Inhalt erfüllten Persönlichkeitsideal zustreben oder so nahe anschliessen, dass sich die Auffassung, sie seien nur kleine Umwege des männlichen Protestes, von selbst aufdrängt; die allgemeine Auffassung hat sie als aktive, männliche Züge notifiziert, und der Nervöse kann sich auf das übereinstimmende Urteil berufen. Wir haben aber in früheren Betrachtungen bereits zu zeigen versucht, dass bei der Konstruktion männlicher Züge die Auswahl vom fiktiven Endziel abhängig und nur innerhalb geringer Grenzen von der bewussten Auffassung des Nervösen oder gar des Beurteilers geleitet ist. Er bedient sich auch solcher Richtungslinien zum männlichen Protest, die der allgemeinen Logik nicht immer oder nur teilweise als männlich erscheinen, etwa wie die Koketterie, die Lügenhaftigkeit usw. Als geradlinigere Charakterzüge zum männlichen Protest sind hervorzuheben: die häufig bewusst geäusserten Tendenzen,

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/133&oldid=- (Version vom 31.7.2018)