Machtgefühl, die der Unlust in einem Gefühle der Ohnmacht wurzelt. — Ein zweiter Einwand trifft Freuds Grundanschauung von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, einer Anschauung, der sich vorher schon Pierre Janet bedenklich nahe befand, als er (l. c.) die Frage aufwarf: „Sollte etwa die Geschlechtsempfindung der Mittelpunkt sein, um welchen herum die anderen psychologischen Synthesen sich aufbauen?“ Die Verwendbarkeit des sexuellen Bildes täuscht den Normalen, insbesondere den Neurotiker. Sie darf den Psychologen nicht täuschen. Der sexuelle Inhalt in den neurotischen Phänomenen stammt vorwiegend aus dem ideellen Gegensatz „Männlich-Weiblich“, und ist durch Formenwandel aus dem männlichen Protest entstanden. Der sexuelle Antrieb in der Phantasie und im Leben des Neurotikers richtet sich nach der männlichen Zwecksetzung, ist eigentlich kein Trieb sondern ein Zwang. Das ganze Bild der Sexualneurose ist ein Gleichnis, in dem sich die Distanz des Patienten von seinem fiktiven männlichen Endziel, und wie er sie zu überwinden sucht, spiegelt. Sonderbar, dass Freud, ein feiner Kenner des Symbolischen im Leben, nicht imstande war, das Symbolische in der sexuellen Apperzeption aufzulösen, das Sexuelle als Jargon, als Modus dicendi zu erkennen. Aber wir können dies verstehen, wenn wir den weiteren Grundirrtum ins Auge fassen, die Annahme, als stünde der Neurotiker unter dem Zwange infantiler Wünsche, die allnächtlich (Traumtheorie) aufleben, ebenso auch bei bestimmten Anlässen im Leben. In Wirklichkeit stehen diese infantilen Wünsche selbst schon unter dem Zwange des fiktiven Endziels, tragen meist selbst den Charakter eines leitenden aber eingeordneten Gedankens und eignen sich aus denkökonomischen Gründen sehr gut zu Rechnungssymbolen. Ein krankes Mädchen, das sich im Gefühle besonderer Unsicherheit während der ganzen Kindheit an den Vater anlehnt, dabei der Mutter überlegen sein will, kann diese psychische Konstellation in das „Inzestgleichnis“ fassen, als ob es die Frau des Vaters sein wollte. Dabei ist der Endzweck schon gegeben und wirksam: ihre Unsicherheit lässt sich nur bannen, wenn sie beim Vater ist. Ihre wachsende psychomotorische Intelligenz, ihr unbewusst wirkendes Gedächtnis beantwortet alle Empfindungen der Unsicherheit mit der gleichen Aggression: mit der vorbereitenden Einstellung, zum Vater zu flüchten, als ob sie seine Frau wäre. Dort hat sie jenes als Zweck gesetzte höhere Persönlichkeitsgefühl, das sie dem männlichen Ideal der Kindheit entlehnt hat, der Überkompensation ihres Minderwertigkeitsgefühls. Sie handelt dann symbolisch, wenn sie vor einer Liebeswerbung oder vor der Ehe erschrickt, soferne sie mit neuen Herabsetzungen ihres Persönlichkeitsgefühles drohen, und ihre Bereitschaftsstellung richtet sich zweckmässig gegen ein weibliches Schicksal und lässt sie Sicherheit suchen, wo sie diese immer gefunden hat, beim Vater. Sie wendet einen Kunstgriff an, handelt nach einer unsinnigen Fiktion, kann aber damit ihren Zweck sicher erreichen. Je grösser ihr Gefühl der Unsicherheit, um so stärker klammert sich dieses Mädchen an ihre Fiktion, versucht sie fast wörlich zu nehmen, und da das menschliche Denken der symbolischen Abstraktion hold ist, gelingt es der Patientin und mit einiger Mühe auch dem Analytiker, das Streben der Neurotiker: sich zu sichern, in das symbolische Bild der Inzestregung einzufangen. Freud hat in diesem auf einen Zweck gerichteten Vorgang eine Wiederbelebung infantiler Wünsche erblicken müssen, weil er letztere als
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/13&oldid=- (Version vom 31.7.2018)