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unentwickelte Seelenleben zeigt höchstens spurweise Ansätze zu halluzinatorischen Empfindungen, die als fiktive Vorbereitungen für ein Ziel, als Antizipationen in unsicherer Zeit aufzufassen sind. So Lächeln im Schlafe, angenehme Empfindungen beim vorauseilenden Suchen nach irgendwelchen Organbefriedigungen oder Sicherungen.

Die halluzinatorische Erregung in der Neurose und Psychose dient ohne Ausnahme der leitenden Fiktion des Persönlichkeitsideals. Man beachte auch die Bedeutung der Schmerz- und Angsthalluzination für das Bild nervöser Erkrankungen. Ein weiteres Eingehen auf den Mechanismus der Halluzination belehrt uns eindeutig, dass sie sich aus Tendenzen zur Abstraktion und zur Antizipation zusammensetzt, und dass sie als verstärkte Fiktion oder als Memento dadurch ihre Bedeutung gewinnt, dass sie zur Sicherung des Persönlichkeitsgefühls anspornt. Dass sie mit Erinnerungsspuren verknüpft ist, kann nichts Wesentliches daran bedeuten. Die Psyche arbeitet ausnahmslos mit Bewusstseinsinhalten und Empfindungen, die durch die Erfahrung gegeben sind und aus dem körperlichen Substrat stammen. Die Bedeutung der Psyche und insbesondere der neurotischen Psyche liegt in der besonderen Auswahl dieser Erinnerungsspuren und in deren tendenziösem Zusammenhang mit der neurotischen Apperzeption. Die nervös aufgepeitschte Sicherungstendenz bedient sich also einer besonders ausgebildeten Funktion des Vorausdenkens, der Halluzination, in welcher abstrakter und bildlich eine Szene abläuft, ein vorläufiges Finale, ein antizipierter Schlusspunkt, aneifernd, damit der Halluzinant die Brücke schlagen soll, oder schreckend, damit er andere Wege des Handelns einschlage. Die Halluzination, somit auch der Traum sind gleich andern Vorversuchen der Psyche dazu bestimmt, den Weg ausfindig zu machen, der zur Erhöhung oder Erhaltung des Persönlichkeitsgefühls nötig ist. In ihr spiegeln sich das Zutrauen, die Hoffnungen oder Befürchtungen des Patienten.

Obige Patientin stand knapp vor der Schliessung einer Heirat, als ihre Magenneurose einsetzte. Sie litt an Schmerzen in der Magengegend, an Aufstossen, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Obstipation. Eines Abends, kurz vor dem Schlafengehen hörte sie deutlich das Wort: „Eskadambra“. Scheinbar sinnlose Wortbildungen finden sich bekanntlich oft unter den Leistungen der Nervösen. Zumeist erweisen sie sich als nach einem Schema zusammengesetzt, ähnlich wie Kinder Sprachen erfinden, durch die sie ein Überlegenheitsgefühl erwerben. Pfister konnte bei „Zungenrednern“ Deutungen der aus den Faszinationen stammenden Wortbilder zustande bringen. Im vorigen Kapitel habe ich die vollständige Auflösung eines halluzinatorischen Ohrensausens gegeben, in zwei anderen Fällen fand ich das Ohrensausen als schreckende Erinnerung an das Brausen des Meeres und seine Gefahren, als Sinnbild des Lebens, ähnlich wie Homer die ἀγορὰ mit dem brausenden Meere vergleicht[1]. Bei der Paranoia und Dementia praecox kleiden sich die zum männlichen Protest führenden Regungen in die Form der Halluzination und sichern das psychotische Schema durch ihre akustische oder visuelle Abrundung.


  1. Ein anderes Mal fand ich das Ohrensausen als Erinnerung an das Tönen der Telegraphenleitung; dieses Tönen mahnte ihn an seine Vereinsamung in der Kindheit, wo er oft allein mit seinen Zukunftshoffnungen, ähnlich wie der Telegraph, die ganze Welt umspannte.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/127&oldid=- (Version vom 31.7.2018)