sich denn auch vorzüglich rein sinnlicher Mittel, um ihre Zwecke zu erreichen und ist in dieser Hinsicht ein Ausfluss echt gynaikokratischer Instinkte“. Wir können nur hinzufügen, dass diese „gynaikokratischen Instinkte“ nach dem Muster der Manngleichheit konstruiert sind, sich also von einem männlichen Persönlichkeitsideal abhängig erweisen, wenngleich durch einen Kunstgriff dabei weibliche Mittel als die einzig vorhandenen und wirksameren zur Anwendung gelangen. Die Aufmerksamkeit und das Interesse dieser Nervösen, unter denen die männlichen koketten Neurotiker dadurch auffallen, dass sie nach Art von Frauen ihren männlich gewerteten Triumph durchsetzen wollen, ist in hochgradiger Weise darauf gerichtet, Eindruck zu machen, und die Andern in ihren Dienst zu nehmen. Es hängt mit diesem Charakterzug zusammen, dass die neurotische Verstärkung dieser sekundären Leitlinie zur Selbstüberschätzung führt, damit auch zu verstärkten Zügen der Herrschsucht, des Stolzes und der Entwertung anderer. So darf uns dabei nicht wundernehmen, dass das Objekt des Begehrens in der Regel durch den Narzissismus (Naecke) des Patienten überwertet erscheint. Diese Überwertung ist vielmehr Vorbedingung in der Konstruktion der Beziehung, und in ihr spiegelt sich das Grössengefühl der Patientin[1]. In der psychotherapeutischen Behandlung rufen insbesondere diese Fälle den Schein der „Verliebtheit in den Arzt“ hervor. Es lässt sich aber unschwer entnehmen, dass diese „Liebesübertragung“ nur einer der vielen Kampfbereitschaftsmöglichkeiten entspricht, den Widerstand und[WS 1] damit die Überlegenheit des Mannes, des männlichen Arztes zu brechen. Und es ist nicht schwer, ihr Gefühl der Verkürztheit, das diese sonderbare, verwickelte Form des männlichen Protestes hervorruft, aus dem Gefühl ihrer Weiblichkeit entspringen zu sehen, die sie als eine Minderwertigkeit empfinden.
In keinem Falle aber, wie weit auch die kokette Nervöse gehen mag, ist ihr Ziel mit der Unterwerfung unter den Mann zu vereinbaren. Bald früher, bald später auf diesem Wege droht dem Manne die Entwertung, und zwar immer dann, wenn der neurotischen Patientin die Situation „zu weiblich“ wird. Auch dieser Moment kann verschiedentlich angesetzt werden, in der Regel aber lösen eine intimere Berührung, ein Kuss, die Erwartung des Sexualverkehrs oder die Befürchtung einer Gravidität und Geburt die verstärkte Sicherungstendenz aus und erzeugt den Ausbruch dessen, was gemeiniglich als Neurose oder Psychose bezeichnet wird. Dann kommt die stärkere Abstraktion von der Wirklichkeit zu ihrem Recht, die Fiktionen treten deutlicher hervor, die Entwertung des Mannes drängt zu Handlungen und Taten, die scheinbar jeden Sinn verloren haben, und die feindlichen Bereitschaften des gereizten Aggressionstriebs, mit ihnen die neurotischen Charakterzüge werden sichtbarer.
Jeder Neurotiker hat etwas von dieser narzissistischen Koketterie; sie entstammt ja seiner hypostasierten Persönlichkeitsidee, und gründet sich wie diese auf einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit. Mit diesem Zuge steht in gutem Einklange, dass sich jeder Neurotiker, insbesondere aber die eben behandelte Spielart, so schwer von Personen oder Dingen trennen kann. Der Abschied eines scheinbar
- ↑ Der Glaube an den eigenen Zauber ist so gross, dass jeder Widerstand zu neuen Anstrengungen Anlass gibt.
- ↑ Vorlage: uud
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/121&oldid=- (Version vom 31.7.2018)