Die eingangs geschilderte psychische Haltung der Patientin zeigt den wesentlichen Unterschied. Allerdings war noch ein Rest ihrer Furcht vor dem Manne und ihres männlichen Protestes vorhanden, der nach kurzer Zeit einem normalen Verhalten Platz machte. Was einen nachdenklich stimmen konnte, war der Ansatz zu einer schwierigen, sozial minderwertigen Situation, der nur durch weiteres Eingreifen beseitigt werden konnte. Ob es aber eine um vieles günstigere Lösung des Problems dieser Patientin gibt, die gealtert, durch die langdauernde Neurose aller gesellschaftlichen Verbindungen beraubt und mittellos ist?
Bei aller Wucht und Hartnäckigkeit, die den neurotischen Symptomen und dem neurotischen Charakter anhaften, zeigen sie doch auch häufig eine derartige Wandelbarkeit und Hinfälligkeit, dass gerade diese Erscheinungen die Aufmerksamkeit vieler Autoren erregt haben. Der Charakter der Launenhaftigkeit, des Stimmungswechsels, der Suggestibilität und der Beeinflussbarkeit (Janet, Strümpell, Raimann u. a.) wurde nicht mit Unrecht als ein wichtiges Zeichen einer psychogenen Affektion angegeben. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass bei psychischen Erscheinungen, die — wie wir nachgewiesen haben — nur Mittel, Ausdrucksmittel, zweckdienliche Bereitschaften vorstellen, die Variabilität selbst oft gewahrt bleiben muss, da sie ja auch als Hilfslinie erscheinen und dem fiktiven Endzweck, der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dienen kann. Die neurotische Selbsteinschätzung wird allerdings dieses Schwanken abermals zum Ausgangspunkt einer Betrachtung nehmen, wird durch tendenziöse Verstärkung der Suggestibilität das Urteil von der eigenen Schwäche übertreiben, es mit aufgesuchten, meist falsch gewerteten Erinnerungen stützen, um auf neurotische Weise den erhöhten Auftrieb zu gewinnen. Etwa wie folgender Fall lehrt: Vor kurzem zeigte in Wien ein Arzt in öffentlicher Sitzung Beispiele von Wachsuggestion, die auch bei einer bestimmten Dame an einigen Abenden gelangen. Als dieselbe Dame sich an einem späteren Abend abermals zur Demonstration bieten sollte, antwortete sie mit einem hysterischen Anfall von solcher Stärke, dass die weiteren Vorlesungen des Arztes polizeilich verboten wurden. — Bei der psycho-therapeutischen Behandlung muss man jederzeit darauf gefasst sein, dass die Einfügung des Patienten seinen männlichen Protest, seine Anfallsbereitschaft steigert, und ist in erster Linie gezwungen, diese Reaktion zu unterbinden. Jede Besserung im Befinden wird von dem Patienten als Zwang und Niederlage empfunden, und oft schliesst sich eine Verschlechterung an, aus keinem anderen Grunde, als weil ein gutes Befinden vorhergegangen ist. — Die vielfachen, polar angeordneten, ambivalenten (Bleuler) Züge des Nervösen und psychotischen Kranken bauen sich auf der hermaphroditischen Spaltung der neurotischen Psyche auf und gehorchen einzig dem mit Überempfindlichkeit und grosser Vorsicht gesicherten Persönlichkeitsideal.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/118&oldid=- (Version vom 31.7.2018)