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Eines Tags, als der nunmehr 14jährigen Patientin ein Mann auf der Treppe Anträge stellte, entwickelte sich aus dieser Konstellation eine Wahnbildung, deren Grundlagen leicht zu durchschauen sind. Sie hielt sich mehrere Monate lang für den Dienstbotenmörder Hugo Schenk und brachte so durch stärkere Abstraktion, die zu Sicherungszwecken eingeleitet wurde, ihre männliche, ihre homosexuelle und ihre sadistische Fiktion zur Verschränkung, indem sie sie schärfer zum Ausdruck brachte, und indem sie gleichzeitig ein zu befürchtendes Ereignis antizipierte. Diese drei Bedingungen: stärkere Abstraktion von der Realität, Verstärkung der männlichen, nach „oben“ führenden Leitlinie und Antizipation des Leitbildes meist in Form einer Verkleidung — sind die Fundamente jeder Wahnbildung. Die Rolle endogener und exogener Gifte besteht in vielen Fällen darin, dass diese ein Gefühl erhöhter Unsicherheit hervorrufen, wie es auch durch psychische Erlebnisse zustande kommen kann. Immer aber ist die neurotische Sicherungstendenz, die sich im Falle erhöhter Unsicherheit naturgemäss verstärkt, die wirkende Ursache der Wahnbildung. Sie zieht dann auch die neurotische Apperzeptionsweise stärker in ihren Machtbereich und bewirkt so die Absperrung. Die Verwendung von weiblichen Dienstboten im Wahngebäude unserer Kranken bringt gleichzeitig die gegen das weibliche Geschlecht gerichtete Entwertungstendenz zum Ausdruck. In ihr Wahngebäude ragte mächtig noch die Angst hinein, deutlich erkennbar als Sicherung gegen den Mann und so der Absicht ihres Wahnes koordiniert, ein zweiter Ausdruck für ihren verschärften männlichen Protest[1].

Eine weitere Perversionsrichtung unserer Patientin, die ihr unklar bewusst war, bestand in einer Fellatiophantasie. Die Realien, die dazu vorlagen und bei der neurotischen Leitung ihrer Phantasie Verwendung fanden, waren der Patientin genau bekannt. Sie war immer sehr genäschig gewesen und hatte als Kind dieser Neigung sehr gefröhnt. Noch heute kommt dieser Charakter öfters zur Geltung. Es war aber auch nicht selten vorgekommen, dass sie ohne Ekel abscheuliche Dinge in den Mund nahm. Auf ihrer Flucht vor der weiblichen Rolle versuchte es diese Patientin, da ihr, wie aus Einzelheiten ihrer Krankengeschichte hervorgeht, gerade der Geburtsakt als unannehmbar und besonders weiblich erschien, sich vorübergehend diese perverse Situation als möglich vorzustellen. Die Anregung ging von einem Gespräch aus, das sie belauscht hatte. Von einer in angenehmen Verhältnissen lebenden, allein stehenden Nachbarin wurde diese Perversion behauptet. Frühzeitig vom Manne abgedrängt, suchte sie gelegentlich doch die Fühlung mit der Wirklichkeit zu gewinnen und fand in Ablehnung des Geburtsaktes, gestützt auf ihre übertrieben empfundene Eignung zu ekelhaften Prozeduren den Weg zu dieser Perversionsphantasie. Doch auch gegen diese lehnte sich ihr männlicher Protest auf. Ihr nächtliches Aufschreien galt in der Regel derartigen probeweise arrangierten Traumsituationen, und mit diesem männlichen Protest antwortete sie auf die selbstgestellte Zumutung einer weiblich-perversen Rolle.


  1. Die Verstärkung der fiktiven Leitlinie beim unsicher gewordenen Neurotiker bringt es mit sich, dass er stärkere Mittel zu seiner Sicherung verwenden muss: Angst, wo ein Anderer Moral hat, — Hypochondrie, wie ein Anderer Vorsicht anwendet. Unsere Patientin hat den Wahn und die Angst zugleich, während andere Mädchen noch mit Moral und Vorsicht auskommen. So auch Halluzinationen an Stelle von Vorsicht, Befürchtungen und Zuspruch.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/117&oldid=- (Version vom 31.7.2018)