realen Angstempfindungen aufgebaut war, und nun konnte sie auf eine Befürchtung einer Herabsetzung im Sinne einer weiblichen Rolle, mit Vorsicht jeden Anlass wahrnehmend, halluzinatorisch einen Zustand von Angst bei sich auslösen, ihn sozusagen eskomptieren, wie er etwa der Eventualität einer Gravidität entsprochen hätte. Diese Antizipation und halluzinatorische Erweckung von Sensationen, wie sie einer für die Zukunft befürchteten Niederlage entsprechen, sind das Werk der vorbauenden Sicherungstendenz und machen, wie ich bereits hervorgehoben habe[1], das Wesen der Hypochondrie, der Phobie und zahlreicher neurasthenischer sowie hysterischer Symptome aus. Ich will hier nur kurz anführen, dass auch das Wesen des Wahnes auf einer ähnlichen dogmatischen, antizipierten Darstellung einer Befürchtung oder eines Wunsches beruht, welche die Sicherungstendenz zu besserer Beglaubigung in einer Phase grosser Unsicherheit, in stärkerer Anlehnung an die fiktive Leitlinie zum Schutze des Persönlichkeitsgefühls bietet. Indem unsere Patientin mit ihrem Angstzustand einen möglichen, zu erwartenden Prestigeverlust vorausahnte und halluzinatorisch festhielt, fand sie sich am besten davor gesichert. Zuweilen brauchte die halluzinatorische Erregung eine weitere Verstärkung: da kam Patientin zur sichernden Zwangsvorstellung, sie habe ein neugeborenes Kind getötet. In der Analyse zeigte sich diese Angst vor dem Manne, gelegentlich in Platzangst ausartend, an Ermahnungen der Mutter geknüpft. Dies bedeutet, dass Patientin aus ihren Erinnerungen sogar die Worte der stets bekämpften Mutter herausgriff, soferne diese sich zur Sicherung eigneten[2].
In diese vorbereitenden Akte fiel ein Ereignis, das den überstürzten Ausbau der sichernden Bereitschaften drohend forderte: eine ihrer Cousinen brachte ein uneheliches Kind zur Welt, worüber in der gutbürgerlichen Familie die grösste Empörung zum Ausbruch kam, insbesondere als sich der Verführer aus dem Staube machte. — Unser wachsendes Verständnis für die Entwickelung dieses Mädchens lässt uns verstehen, warum dieses Ereignis den Ausbau der Neurose beschleunigen musste, und wieso es kam, dass den Worten der gering geachteten Mutter eine höhere Wertung zuteil wurde. Patientin war seit früher Kindheit ein wildes, ungeberdiges Mädchen von grosser körperlicher Kraft gewesen, das mit Vorliebe Knabenspiele spielte und jede weibliche Regung mit äusserster Unlust verpönte. Es ist ihr noch erinnerlich, mit welcher Heftigkeit sie Puppenspiele und weibliche Handarbeiten von sich wies. Die Persönlichkeit des Vaters überragte die der Mutter in auffallendem Masse. Eine unverheiratete Tante, die bei der Familie unserer Patientin wohnte, erfreute sich eines durchaus männlichen Gebarens, zeigte einen Bartwuchs und hatte eine Männerstimme. An diese stark und immer wieder auftretenden Erinnerungen reihte sich eine, die aus späterer Zeit stammte und mit der die Patientin beherrschenden Tendenz aus der Kindheit, — ein Mann werden zu wollen, — erst die nötige Resonanz schuf, die Erinnerung, wie sich eine langjährige Schulkollegin — ein Pseudohermaphrodit — in einen Mann verwandelte. Diese und ähnliche Mitteilungen, ein besonderes Interesse für Hermaphroditismus
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)