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ihrer Kinderzeit eine Erinnerung hervorzuholen, wo sie in ähnlicher Weise um den Vater geworben hat: ihre neurotische Sicherungstendenz hat ja schon lange alle warnenden Erlebnisse in übertriebener Sorgfalt gesammelt, um gegen eine Wiederholung „anaphylaktisch“ vorzubauen. Ja, man würde leicht die Zustimmung der Patientin finden, das Auftauchen gleichgerichteter Erinnerungen und gegenwärtiger Erlebnisse als ihren eigentlichen „verdrängten“ Willensimpuls zu buchen. Denn ihre neurotische Psyche sucht solche Übertreibungen oder auch reale Erinnerungen und macht sie zur Operationsbasis, indem sie die Überzeugung von der Minderwertigkeit des Patienten, von seiner Schuld, von seinem Laster, von seiner allzugrossen Weiblichkeit festigt, um mit grösserer Vehemenz die Überlegenheit, die Männlichkeit zu verfechten und die Vorsicht zu vergrössern. Dieser verstärkte männliche Protest aber, der aus der fehlerhaften, vorsorglichen Perspektive des Patienten erfliesst, kann natürlich die Neurose bloss verstärken. Die Zerstörung dieser Perspektive erst, der neurotischen Apperzeptionsgrundlage, und die Absperrung der fiktiven Zuflüsse zum männlichen Protest, zuletzt das Verständnis für den Aberglauben an eine abstrakte Leitlinie und an deren Vergöttlichung sind die Hebel, die zur Beseitigung der Neurose in Aktion gesetzt werden müssen.

Unsere Patientin hatte um die Zeit dieses Traumes eine Liaison mit einem verheirateten Mann begonnen. Als dieser in sie drängte, und sie während einer Badereise seiner Frau in seine Wohnung lud, hatte sie allerlei Bedenken, in denen ich sie wesentlich bestärkte. Nichtsdestoweniger hielt sie die Beziehung aufrecht und spielte mit dem Feuer, weil ihr, wie sie sagte, das ungeduldige Zappeln des Mannes Spass machte. Nebenbei war ihre Handlungsweise als feindseliger Akt gegen ihre Angehörigen und gegen mich, den bedächtigen Warner, gerichtet. Ihre eigene Auffassung liesse sich als billiger Vorwand deuten. Aber die Vorgeschichte der Patientin, ihr Verhalten während ihrer 20jährigen Krankheit und während der Behandlung zeigten deutlich, dass sie im stärksten männlichen Protest stand, dass sie wohl die Unterwerfung des Mannes verlangen konnte, eine weibliche Rolle aber ängstlich und erschreckt — ihr Leiden bestand in Angstzuständen und nächtlichem, erschrecktem Aufschreien — zurückweisen musste. Der Kernpunkt ihres psychischen Verhaltens bestand in der Furcht vor dem Manne, dem sie sich nicht gewachsen glaubte, eine Furcht, die sie durch ihr eigenes männliches Auftreten und durch Erniedrigung der Männer zu kompensieren suchte.

Nun könnten wir uns an die Deutung des Traumes wagen. Sie übertreibt ihre psychische Abhängigkeit von mir, und festigt diese Überzeugung durch das für diesen Zweck ausgezeichnete Mittel der Einkleidung in ein Traumbild. „Als ob ich zu Ihren Füssen läge.“ Dieses „Unten sein“ wird zur Operationsbasis genommen, und wir dürfen mit Recht erwarten, dass der Konstruktion einer fiktiven weiblichen Rolle der männliche Aufschwung folgt, wie sich in jedem Traume zeigen lässt. Sie greift mit der Hand nach Oben. Die Fortsetzung ergibt meine Entmannung, die Umwandlung in eine Frau: ich trage ein seidenes Kleid. Der gleiche psychische Mechanismus der Entwertung webt in dem übrigen Teil des Traumes.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/111&oldid=- (Version vom 31.7.2018)