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Hand. Das ursprüngliche Minderwertigkeitgefühl bleibt als „Schale“ zurück, füllt sich mit weiblichen Verkürztheitsphantasien und Schuldgefühlen und zwingt, den männlichen Leitpunkt zu erreichen. Das Gebaren unserer Patientin ist nach der Richtungslinie aufgebaut: ich will ein Mann sein.

Seit einigen Jahren setzte eine Zwangsidee ein, die unsere Auffassung von der Neurose klar widerspiegelt. Patientin glaubt, sie habe durch die Masturbation einen nach vorne ragenden Teil des Genitales, der in ihrer Beschreibung wie ein Penis erscheint, verloren. Nun sei sie gänzlich unbrauchbar für die Ehe geworden, denn sie könnte es nicht überleben, wenn ihr Mann von ihrem Laster erführe. Die Sicherung scheint dadurch eine überaus gelungene, und man sieht deutlich, wie sie ihr fiktives, männliches Leitbild als Ideal zu ihrer realen Weiblichkeit in Gegensatz bringt, letztere unterstreicht und als minderwertig empfindet, gerade durch diesen Kunstgriff aber sich vor einer weiblichen Rolle in der Wirklichkeit sichert.

Unter den Hilfslinien der Charakterzüge mussten insbesondere Ehrgeiz und Entwertungstendenz hervortreten, ersterer in der Familie, in ihrer Kunst und den Freundinnen gegenüber, letztere in dem spärlichen Verkehr, den sie mit Männern pflegte. Immerhin halfen ihr auch diese beiden Charaktere sich jeder gesellschaftlichen Beziehung zu entschlagen und sich ganz auf die Familie zu beschränken, eine fast regelmässige Erscheinung bei Mädchen, die in ihrem männlichen Protest die Furcht vor dem Mann entwickeln.

Selbst diese Sicherung, so stark sie auch erscheinen mag, konnte dem Persönlichkeitsideal unserer Patientin auf die Dauer nicht genügen. Ihre Freundinnen verliessen sie, um zu heiraten, und als sich auch die jüngere Schwester verlobte, war ihre Leitlinie unhaltbar geworden, weil der Ehrgeiz auch nach der „Herrschaft über den Mann“ strebte. Prinzipiell, wie nervöse, in ihrer Unsicherheit verstärkte Mädchen meistens tun, entschied sie: der Erstbeste! Sie ging auf einen Maskenball, lernte dort einen ehrenwerten Mann kennen, der nach kurzer Bekanntschaft ihr Gatte werden wollte. Auf einem Ausflug gab sie sich ihm hin, weil sie, wie sie erzählte, bei einer Berührung befürchtete, er könnte den Defekt ihres Genitales und damit ihre Schmach erkennen. Und lieber wollte sie alles Andere über sich ergehen lassen. Als der Mann später freundlich in sie drang, sie möge ihm offen sagen, ob er ihr erster Liebhaber gewesen sei, und warum sie sich so kalt benommen habe, stürzte sie den wohlmeinenden Mann mit der lügenhaften Erklärung aus allen Himmeln: sie habe schon einem anderen Mann angehört. Daraufhin löste der Mann die Beziehung.

Es ist leicht auszurechnen, was nun folgte. Die Patientin, die ständig über einen anderen Verlust, den ihrer Männlichkeit, trauerte, sah sich abermals verkürzt und um ihren neuen männlichen Triumph gebracht. Sie widerrief ihre Lüge, versuchte mir später zu erklären, dass sie, um den Mann zu quälen und ihn für die ihr beigebrachte „Niederlage“ zu bestrafen, zu entwerten, so gesprochen habe. Sie teilte ihm diesen Sachverhalt auch mit, aber er zog sich gänzlich zurück, grossenteils aus Furcht vor weiteren Disharmonien in einer Ehe mit diesem nervösen Mädchen. Daraufhin entbrannte unsere Patientin ganz in Liebe für ihn, machte ihn zu ihrem Gott, verbrachte die Nächte

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/109&oldid=- (Version vom 31.7.2018)