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Schlaflosigkeit und Suicidgedanken vor. Seit dem Tode des Vaters sorgt sie für die ganze Familie, vertritt also den Mann, den Ernährer, ist in ihren Phantasien und Träumen das Lasttier, das Pferd, das alles herbeischafft. Sie arbeitet bis zur Erschöpfung und opfert alles ihrem Bruder und ihrer Schwester. Soweit sie zurückdenkt, wollte sie immer ein Mann sein. Als Kind hatte sie derbe, knabenhafte Züge und wurde in ihrem 15. Lebensjahre noch im Bade für einen Knaben gehalten.

v. Neusser hat in seiner Arbeit über Status thymico-lymphaticus auf gegengeschlechtliche körperliche Charaktere bei dieser Konstitutionsanomalie hingewiesen. Auch in meinen Arbeiten neurologischen Inhalts habe ich den Befund der körperlichen Gegengeschlechtlichkeit hervorgehoben, und von ihr nachweisen können, dass sie von der Neurose häufig benutzt wird, sei es zur Hervorhebung der Minderwertigkeit infolge eines weiblichen Einschlags, sei es zum männlichen Protest. Die älteren Hervorhebungen Flies', der ebenso wie Halban meine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt hat, betreffen nicht den psychischen Mechanismus in meinem Sinne.

In einer nicht allzu seltenen Variante enthüllt die Patientin ihren männlichen Protest gleich am ersten Tage, indem sie mit grosser Schärfe eine unentgeltliche Behandlung ablehnt. Sie wolle sich nichts schenken lassen, betont sie mehrere Male hintereinander, was sie in der Folge in der mir bereits bekannten Art aufklärte, es sei unmännlich, sich Geschenke machen zu lassen. Deswegen habe sie es stets abgelehnt. Dagegen schenkt sie selbst gerne, was sie insbesondere in ihrer väterlichen Rolle innerhalb der Familie häufig praktiziert.

Aus ihrer Krankengeschichte hebe ich als wichtig hervor, dass ein Oheim sie im 8. Lebensjahre zu vergewaltigen suchte. Sie verhielt sich in ihrem Schrecken passiv, tat aber von diesem Angriff keine Erwähnung. Seit ihre Nervosität Fortschritte gemacht hatte, zwang sie sich zu der Auffassung, sie wäre schon als Kind ein sinnliches Geschöpf gewesen und fähig, sich jedem hinzugeben. Und so sei es auch bis heute geblieben. Also die uns bereits geläufige neurotische Nutzanwendung einer Erinnerung zu Zwecken der Sicherung; denn die Folge dieses Gedankenganges war, dass sie bis zu ihrem 30. Lebensjahre allen Männern auswich.

Seit ihrem 10. Lebensjahre trieb sie bis vor 5 Jahren, wie sie behauptete, eifrig Masturbation. Sie entwickelte daraus ein überaus starkes Schuldgefühl, stärkte die Überzeugung von ihrer Sinnlichkeit und kam zu dem Schlusse, sie habe sich auf immer unwürdig gemacht in die Ehe zu treten. Diese Überzeugung musste noch weiter ihre Haltung beeinflussen, die sie gegen Männer einnahm.

Dies ist die gewöhnliche Rolle der Masturbation in der Neurose, dass sie durch das Arrangement eines Schuldgefühls[1], gleichzeitig aber durch ihr Ergebnis, auf den Partner verzichten zu können, die Sicherung vor dem Partner durchführt. Die Ähnlichkeit mit jenen Fällen, die durch Verstärkung eines Kinderfehlers, Enuresis, Stottern, oder durch neurotische Symptome die gleiche Sicherung vornehmen, liegt auf der


  1. Die primären Gewissensregungen bei der Masturbation sind die Folgen, zugleich aber die Sicherungen des beleidigten Persönlichkeitsideals. In der Neurose werden diese Sicherungen, oft unter Beibehaltung der Masturbation verstärkt, und als zweckdienlich dem Lebensplan eingefügt: Der Autoerotismus wird so zum Symbol des Lebensplanes, woraus sich sein Zwangscharakter ableitet.
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)