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leidet auch er an der neurotischen Apperzeption, mittelst deren er den Abstand der Wirklichkeit von einem tendenziös verstärkten Ideal misst. Es ist aber eine der wirksamsten Attituden des Nervösen, pollice verso sozusagen einen wirklichen Menschen an einem Ideal zu messen, da man ihn dabei beliebig stark entwerten kann. Die Rachsucht der verschmähten herabgesetzten Frau bedient sich mit Vorliebe neurotischer Symptome, unter denen die Frigidität eine hervorragende Rolle spielt. Die Absicht zielt darauf hin, dem Manne die Männlichkeit zu bestreiten, ihm selbst bei gutem Einvernehmen die Grenzen seines Einflusses vor Augen zu führen, und sich so ein gut Stück Unüberwindlichkeit zu sichern.

Dass dieser mächtige Aufbau die Folge ursprünglicher Gefühle der Verkürztheit ist, die nach Kompensation verlangen, geht aus eingehenderen Analysen hervor. Gewöhnlich geschieht die Apperzeption einer Herabsetzung oder einer analogen Befürchtung oder eines solchen Wunsches nach dem Bilde des Gegensatzes von Mann und Weib, demzufolge die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls als männlich, eine Erniedrigung als weiblich empfunden und gewertet wird. Oder es setzt sich in Phantasien und Träumen der Gedanke einer Kastration (weiblich), eines Verlustes des Penis als Symbol an Stelle des Gefühls der Herabsetzung. Recht häufig dringt die männliche Leitlinie, die bereits in der Vorgeschichte eine grosse Rolle gespielt hat, in der Neurose vorwiegend oder nebenbei durch und verstärkt männliche Züge, sobald das Persönlichkeitsgefühl in Frage gestellt wird, was bei Frauen in der Regel leicht auffällig wird.

Abgesehen von der Bereitschaft zur Eifersucht findet man bei weiblichen Nervösen eine Anzahl anderer Symptome, die aus dem Festhalten einer männlichen Leitlinie erwachsen. Sie sind im allgemeinen der Liebe, insbesondere dem Sexualverkehr abhold und können eine ganze Anzahl von Gründen statt des einen wahrhaften nennen, ein Mann zu sein, und sie versuchen, dies so weit als möglich durchzusetzen. Abneigung gegen Liebe und Ehe dauert dann entweder durchs ganze Leben an, oder dieser Formenwandel der männlichen Leitlinie entwickelt mit zunehmenden Jahren einen derartigen inneren Widerspruch, — die Furcht, den Mann nicht fesseln zu können, drückt auf das Persönlichkeitsgefühl und zeitigt unter fortwährenden Schwankungen neurotische Liebesregungen. Diese Schwankungen kommen dadurch zustande, dass die neue Richtungslinie, einen Mann zu gewinnen, um dadurch zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls zu gelangen, bereits seinen Gegensatz in sich trägt: Verminderung des Persönlichkeitsgefühls durch Verweiblichung. Oft erwacht in solchen Fällen das Symptom neurotischer Zweifelsucht und macht sich in den banalsten Beziehungen breit, bis man hinter den hermaphroditischen Gehalt der aktuellen Situation kommt, aus dem der Antrieb des Schwankens und Zweifelns hervorquillt. Jeder Entschluss ruft im Gegenbewusstsein (Lipps) die gegenteilige Regung hervor, die dann nach dem Gegensatz „Männlich-Weiblich“ empfunden und gewertet werden, so dass die Patientin entweder gleichzeitig oder hintereinander eine weibliche und männliche Rolle spielt. Folgender Fall dürfte diesen Zustand anschaulich darstellen:

Ein 30jähriges Mädchen, das sich durch Lektionen ihren Unterhalt erwirbt, stellt sich mit Klagen über Unruhe, fortwährenden Zweifel,

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)