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von der Wirklichkeit abzusehen und Versuche zu unternehmen, die auf eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls abzielen. Es liegt im Wesen des Nervösen, sein Minderwertigkeitsgefühl durch fortwährende Beweise seiner Überlegenheit abschwächen zu wollen. Eine geliebte Person soll ihre Persönlichkeit aufgeben, soll ganz in ihm — oder in ihr aufgehen, soll zum Mittel werden, das eigene Persönlichkeitsgefühl zu heben. Es wäre ein guter Prüfstein einer echten, von neurotischen Tendenzen freien Liebe, ob der eine Mensch es vertragen kann, wenn der andere seine Eigengeltung behält, ja wenn er ihn darin noch unterstützt. Dieser Fall ist selten. Gerade in die Beziehung der Geschlechter kommt fast regelmässig ein prüfender, suchender, misstrauischer, eigensinniger und eigennütziger Zug, der ein liebevolles Nebeneinander immer wieder stört. Prinzipielle Forderungen stehen hier auf der Tagesordnung, und ein Junktim löst das andere ab, wobei die Spitze immer leicht zu erkennen ist. Es ist als ob beide Teile vor einem Rätsel stünden, dessen Lösung sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Die Analyse deckt dann regelmässsig als Folge des Gefühls der Minderwertigkeit Furcht vor dem sexuellen Partner und damit ein Ringen um die Überlegenheit auf.

Wir haben dieses Ringen auf verdeckten Wegen in Fällen mit gesteigertem Minderwertigkeitsgefühl, bei angeborener Organminderwertigkeit zum Teil schon kennen gelernt. Es wird durch eine Anzahl neurotischer Bereitschaften gesichert, und gewisse Charakterzüge werden stark hervorgetrieben, damit man „mit dem Feind“ in enger Fühlung bleibt. Vielleicht der sozial bedeutsamste dieser Züge ist das Misstrauen und die Eifersucht, denen gleichlaufend Herrschsucht und Rechthaberei beigeordnet sind. Je nach der Vorgeschichte des Patienten, nach seinen verwendbaren Vorübungen und tendenziös gewerteten Erinnerungen wird bald der eine Zug, bald der andere deutlicher hervortreten. Sie stehen alle unter dem Drucke des fiktiven Endzweckes, brechen bei drohender Einbusse des Persönlichkeitsgefühls mächtig hervor, oder erweisen sich noch als wirksam, wenn der Stolz sie ins Unbewusste zurückdrängt. In allen Fällen verfügen sie über die neurotischen Bereitschaften, die bald als Depression, bald als Angst vor dem Alleinsein, als Platzangst, als Schlaflosigkeit und in hundert anderen Symptomen den „Gegner“ zur Waffenstreckung zwingen sollen. Die stärksten moralischen Prinzipien haben die gleiche Geltung wie etwa Gefallsucht und Ehebruch als Racheakt, wenn das Gefühl einer Herabgesetztheit die Wiederherstellung der Gleichberechtigung oder die Niederlage des Anderen verlangt. Die protestierende Rachsucht des Mannes bei Mangel des Überlegenheitsgefühls ist meist geradliniger, äussert sich im „Spielen des wilden Mannes“, in Seitensprüngen und Verschmähung, zuweilen aber in Impotenz, auffallender Protektion der Kinder oder Zweifel an deren Legitimität, häufig auch im Meiden der Häuslichkeit, vermehrtem Alkoholkonsum oder im Aufsuchen von Vergnügungen. Die Absicht dieser Handlungsweise ist meist so durchsichtig, dass sie verstanden wird. Denn nur dann erfüllt sie ihren Zweck, wenn sich die Frau dadurch herabgesetzt fühlt. Der häufige Eifersuchtswahn des Alkoholisten ist nicht in der resultierenden Impotenz begründet, sondern Alkoholismus, Impotenz und der verstärkte Charakterzug der Eifersucht sind neurotische Ausdrucksformen des Disponirten, dessen Minderwertigkeitsgefühl eine Steigerung erfahren hat. Wie jeder Neurotiker

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/106&oldid=- (Version vom 31.7.2018)