Mutter gleichgestellt wurde. Er konnte auf Mädchen nicht wirken, war so, nach seiner Meinung, um das männliche Machtgefühl gebracht, und erniedrigte, im Protest, die Mutter wie das Mädchen, des weiteren aber alle Frauen, die er eigentlich fürchtete, zu Dirnen.
Ebenso deutlich kam der „Ödipuskomplex“ bei anderen Träumen zutage, wo auch erst die Einfügung in die psychische Konstellation erlaubte, das Sexuelle als Jargon, als Modus dicendi zu erkennen. So träumte er:
„Ich sitze an einem schlichten Tisch aus braunem Holze. Ein Mädchen bringt mir ein grosses Gefäss mit Bier.“
Der Tisch erinnert ihn an einen unterirdischen Keller in Nürnberg; dorthin war er zu einer wissenschaftlichen Unternehmung gefahren, die ihn ins germanische Museum führte. — In die gleiche Richtung,— des Germanentums, — leiteten Gedanken über das grosse Gefäss mit Bier. Es ist von vorneherein begreiflich, dass der ausserordentlich musikalische Patient mit starken Reminiszenzen an Wagners „Meistersinger“ in Nürnberg ankam. Als er diese erwähnte, begann er eine Szene aus Wagners Opern zu suchen, in der jemand einen Trunk zu sich nimmt. Erst fiel ihm Tristan ein, hierauf Siegfrieds Eintreffen am Hof Gunters. In beiden Szenen trinkt der Held einen Liebestrank. So fühlte unser Patient die rätselhafte Neigung zu seiner Mutter als durch die Zauberkünste der Mutter erweckt. Zuletzt fiel ihm Siegmund ein, dem seine Schwester Sieglinde mitleidig ein Horn mit Meth reicht. Der Sinn dieses Traumes lautet demnach: die Stimme des Blutes hat gesprochen, die Mutter nimmt sich mitleidig seiner an, er ist der Held, der dem Mann (Vater) die Frau entreisst. Der Ausblick auf den Inzest wie bei Wagner, Patient begehrt wie ein Trunkener nach seiner Mutter.
Die psychische Situation des Patienten war ins „Weibliche“ geraten. Sein älterer Bruder kam von einer Reise nach Hause und wurde mit grosser Liebe empfangen. Wie anders war es ihm ergangen, als er vor einiger Zeit von seiner Deutschlandreise zurückgekehrt war! Der Gedanke: ich bin verkürzt! — wurde durch den Empfang des Bruders mächtig verstärkt, und im Traum sucht er sich auf die männliche Linie hinüberzuretten. Es war ein Versuch, der scheitern musste. In derselben Nacht bekam er einen Anfall.
Der Anfall hatte den Zweck, die Zärtlichkeit der Mutter auf den Patienten zu lenken. Mit dem Vater gelang dies leicht. Aber auch die Mutter vergass seine eifersüchtigen, oft rohen Zornesausbrüche, sobald er bewusstlos lag, und setzte sich auf einige Zeit an sein Bett. So befriedigte er seinen Wunsch, Alles zu haben, Alles so zu haben, wie der Bruder, wie der Vater. Die Formenwandlung seiner ursprünglichen Fiktion: ich habe ein unvollkommenes Genitale, ich werde kein ganzer Mann sein, — war bis zu dem Gedanken gelangt: ich will auch die Mutter haben wie der Vater, wie der Bruder sie besitzen. Um mit der nötigen Energie vorgehen zu können, bedurfte es nun einer tiefgefühlten Überzeugung seiner Neigung zur Mutter: also fingierte er sie.
Den tiefsten Zweck seiner sehnsüchtigen Einstellung zur Mutter ergab die weitere Analyse, die einen entscheidenden Punkt in seinem Gefühle der Unsicherheit aufdeckte. Als sich die Mutter ihm
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)