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genommen, ein Föderativstaat, sondern ein Mittelding zwischen beiden. Dieser Zwitterzustand aber ist der Grund einer zehrenden Krankheit und fortwährender innerer Umwälzungen, indem auf der einen Seite der Kaiser nach Wiederherstellung einer monarchischen Herrschaft, auf der anderen die Stände nach völliger Unabhängigkeit streben. Und wie es die Natur aller Degenerationen ist, wenn sie einmal von dem ursprünglichen gesunden Zustande bedeutend abgewichen sind, in schneller entwickelnd und gleichsam von selbst sich dem anderen Extrem zu nähern, während sie sich nur unendlich schwer auf ihre Urform wieder zurückführen lassen; und wie man einen Felsblock leicht einen Berg hinunterrollen, aber nur mit unsäglicher Anstrengung wieder hinaufwälzen kann, so wird Deutschland ohne die erschütterndsten Bewegungen und eine gänzliche Umwälzung aller Verhältnisse sich nicht wieder in die Form einer Monarchie zwängen lassen, sondern es nähert sich mehr und mehr der Verfassung einer Föderation von Bundesgenossen ungleichen Rechtes, indem die Stände die Hoheit des Kaisers gebührend anzuerkennen und zu ehren haben[1]. Als Beispiel einer solchen Föderation[2] kann das Verhältniß gelten, welches zwischen Römern und Latinern bestand, ehe letztere völlig unterworfen und zuletzt mit dem römischen Bürgerrechte beschenkt wurden. Ein anderes Beispiel bietet das Verhältniß Agamemnons zu den anderen griechischen Heerführern vor Troja. Gewöhnlich freilich pflegt hier der Fall einzutreten, daß der eine übermächtige Bundesgenosse die anderen allmählich zu seinen Unterthanen herabdrückt.

Ja wenn man von der gegenseitigen Eifersucht zwischen Kaiser und Ständen absieht, ist Deutschland schon jetzt eine solche Föderation, in welcher nur die Stellung der Stände eine etwas untergeordnete ist, insofern als sie die Majestät des Kaisers anzuerkennen und gebührend zu ehren verpflichtet sind.

Wir werden demnach kaum irren, wenn wir sagen, Deutschlands Verfassung nähert sich der einer Föderation, in welcher das Haupt des Bundes mit königlichen Insignien bekleidet ist. Im nächsten Capitel werden wir nun zu betrachten haben, woran dieses Staatsgebilde krankt.

  1. Ed. posth. fügt hinzu: „insofern er außer durch die Symbole der königlichen Macht auch durch ein höheres Ansehen und gewisse Rechte sich vor ihnen auszeichnet.“
  2. Ich muß hier und an anderen Stellen mich des Fremdwortes bedienen, denn mit unseren Ausdrücken Staatenbund und Bundesstaat verbinden wir bestimmte Unterscheidungen und charakteristische Merkmale; keiner der beiden Begriffe aber paßt ganz genau zu dem, was sich P. als die Verfassung des deutschen Reiches denkt, wie sie zu seiner Zeit war (Cap. 5 und 6) und wie er sie wünschte (Cap. 8).
Empfohlene Zitierweise:
Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/106&oldid=- (Version vom 1.8.2018)