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zur Vollstreckung ihrer Befehle bedient, das thut nichts zur Sache. Ich will dabei nicht einmal darauf Gewicht legen, daß jener Grundsatz von dem Princip der Thätigkeiten nur auf natürliche Wesen Anwendung findet, für die Wesen aber nicht gilt, welche ihre Handlungen nach ihrem freien Willen regeln.

§. 5. Fortsetzung.

Die vorangehenden Erwägungen nun mögen sehr geeignet sein, in den Schulen zu mannigfachen spitzfindigen Disputationen Veranlassung zu bieten: in der That wird doch Niemand, der das Wesen des Staates tiefer kennt, behaupten können, daß das deutsche Reich eine Aristokratie sei.[1] Denn zum Wesen der Aristokratie gehört es, daß ein stehender. d. h. permanenter Rath die Souveränetät habe, der über alle Staatsangelegenheiten beräth und beschließt,[2] die Leitung der täglichen Geschäfte aber bestimmten, ihm verantwortlichen Beamten überweist. Und ein solcher Rath existirt in Deutschland nicht. Denn Kammergericht und Reichshofrath erkennen nur über Appellationen und nur in Prozeßsachen; der Reichstag aber ist kein permanenter Rath, der über alle Angelegenheiten des Reiches beschließt, da er nur aus besonderen Gründen zeitweise zusammenberufen wird.[3] Ja,[4] es ist einfältig, den Reichstag, weil in ihm Majoritätsbeschlüsse gefaßt werden, für ein unfehlbares Zeichen einer Aristokratie zu halten. Denn es giebt ja auch in mehreren Königreichen, z. B. in England, Schweden und Schottland, Reichsversammlungen, in welchen Stimmenmehrheit entscheidet, und wie oft kommt es vor, daß von Bundesgenossen, die sich zu einem Staatenbunde zusammengeschlossen haben, gemeinsame Bundestage abgehalten werden, deren Competenz im Verhältniß

  1. P. hat sich im vorangehenden Paragraphen der Ankündigung, die er im Eingang dieses Capitels gab, entsprechend eingehend mit scholostischen Subtilitäten beschäftigt. Daß er im Grunde allen solchen doch lediglich doctrinären Erwägungen abhold ist, ergiebt sich deutlich aus den Worten, mit denen er diesen Paragraph beginnt. P. ist eben durchaus Realpolitiker, er will sich nicht in abstracten philosophischen Betrachtungen ergehen, sondern er folgert aus den Dingen heraus, wie sie nun einmal real vorliegen. Daher läßt er sich auf eine Erwiderung gegen das Raisonnement der Vertheidiger der Aristokratie überall nicht ein.
  2. Es ist dies ein Punkt, auf den auch Hobbes besonderes Gewicht gelegt hat. Auch er sieht das Vorhandensein eines stehenden Rathes als ein unumgängliches Requisit einer aristokratischen Verfassung an.
  3. Das wurde nicht anders, auch seitdem der Reichstag permanent geworden war. Denn das war lediglich ein factischer Zustand. Rechtlich konnte der Reichstag jederzeit geschlossen werden,so bald man über einen Reichsabschied einig war.
  4. In Ed. posth. heißt es statt der folgenden Sätze: Sollte aber auch der Reichstag, der seit 1663 bis jetzt versammelt ist, nicht wieder auseinander gehen, was nach deutscher Art sogar wahrscheinlich ist, so würde er noch nicht den Senat einer Aristokratie ersetzen. Denn es ist eine große Thorheit, dergleichen Versammlungen und den Umstand, daß in ihnen die Majorität entscheidet, für ein unfehlbares Zeichen einer Aristokratie anzusehen. Derartige Stände-Versammlungen, in denen Stimmenmehrheit gilt, giebt es ja auch in mehreren Königreichen: aber berufen kann sie nur der König, und sie haben nicht das Recht, zusammenzutreten, so oft und weswegen sie wollen.
Empfohlene Zitierweise:
Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/100&oldid=- (Version vom 1.8.2018)