Textdaten
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Autor: Felix Dahn
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Titel: Sechzig Jahre!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 90–92
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Sechzig Jahre!
Ein kurzer Rückblick von Felix Dahn.

Nur mit Zögern willfahre ich der ehrenden Einladung des Herrn Herausgebers dieser Blätter, deren Lesern einen Abriß meines nun zum Abend neigenden Lebens vorzuführen: wird es doch als ein Zeichen von Eitelkeit aufgefaßt werden! Und auch Wohlwollende mögen sagen: „Wozu? Der Verfasser erzählt ja sein Leben breit genug in den vier Bänden seiner Erinnerungen.“

Allein der Herr Herausgeber meinte in seinem Aufforderungsschreiben, es sei wünschenswert, daß Gestalt und Leben der Dichter weiten Kreisen unseres Volkes vertraulich nahe treten, auch solchen, die aus gar vielen Gründen eine vierbändige Lehensgeschichte nicht lesen; und er berief sich auf das Vorbild Roseggers, der vor kurzem dem gleichen Wunsche mit schönem Erfolg entsprochen habe.

So sei denn schlicht erzählt, was äußerlich schlicht, innerlich aber oft recht schmerzhaft verwickelt sich abgespielt hat in meinem Leben.

Ich bin geboren in Hamburg am 9. Februar 1834 als der Sohn des Künstlerpaares Friedrich und Constanze Dahn; mein Vater stammte aus einem Berliner Bürgerhause, der Vater meiner Mutter war ein Südfranzose, Le Gay, der, am Hofe König Jeromes zu Kassel als Kapellmeister thätig, eine Hessin, Fräulein Schäfer, geheiratet hatte. Das sechs Wochen alte Kind nahmen die Eltern aus Hamburg mit nach München, wo sie an dem Königlichen Hof- und Nationaltheater drei Jahrzehnte lang unter den dortigen ausgezeichneten Künstlern in allererster Reihe standen. Sie eigneten ein Haus an der Königinstraße (damals Nr. 9, jetzt Nr. 19) gegenüber dem herrlichen „Englischen Garten“ – dieser waldgleichen Anlage – und ein großer eigener Garten mit prächtigen alten Bäumen und breiten Wiesen schloß sich an die Rückseite des Gebäudes. Ueber sechzehn Jahre habe ich hier die Natur in Wald, Feld und Garten zu jeder Jahreszeit, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, in jeder ihrer Stimmungen belauscht, tief in ihr Kleinleben eindringend: Vogel und Fisch, Käfer und Schmetterling, Baum und Moos wurden mir genau vertraut. Und da ich später, vom zwölften Jahre ab, die Herbstferien in den bayerischen und tirolischen Bergen verbrachte, monatelang als Bergsteiger, Fischer, Jäger Land und Leute aufs genaueste kennenlernend, stand und stehe ich der Natur und dem Landvolk nicht fremd wie ein Städter – und obenein Büchermensch! – gegenüber.

Jener weite Garten bildete aber auch den Tummelplatz für die wilden und nicht ungefährlichen Kampfspiele, die ich, vom Knaben an für Fechten und Waffenschwingen leidenschaftlich entbrannt, mit einem Rudel gleichgestimmter Genossen bis in mein sechzehntes Jahr betrieb; nicht bloß die Waffen der Nenzeit, auch die des Mittelalters lernten wir wacker führen. In diesen „Ritterspielen“ wurden nun auch Reden gehalten, dramatisch bewegte Scenen aufgeführt. Was ich in der Schule gelernt oder in den gierig verschlungenen Büchern – Geschichte, Sage, Dichtung – gelesen hatte, ward alsbald dargestellt: Armin, Widukind, Teja, Roland, die Hohenstaufen, die Kreuzfahrer – sie alle wurden nachgeahmt, ihre Kämpfe nachgekämpft.

Denn früh erwachte die Einbildungskraft, genährt vor allem durch Schiller, in dessen „Jungfrau von Orleans“ und „Tell“ ich als fünfjähriger Knabe auf den Knien des Vaters lesen lernte.

Bis zum achten Jahr im Haus unterrichtet, trat ich gleich in die „Lateinschule“, im zwölften in das Gymnasium ein. Ich war anfänglich ein recht mittelmäßiger Schüler; die Räume der Anstalt waren häßlich, schmutzig, ich sehnte mich daraus hinweg in meinen Garten. Erst die Bekanntschaft mit Homer im zwölften bis dreizehnten Jahr änderte das: unwiderstehlich riß mich die Schönheit der Ilias in Form und Inhalt hin, in wenigen Wochen hatte ich sie sowie die Odyssee zu Hause verschlungen. Zugleich ergriff mich der Eifer für das Fach der Geschichte; ich war hierin stets der Erste, während ich es im „Allgemeinen Fortgang“ nie über den Dritten empor brachte.

Im Februar des Jahres 1848 – ich war vierzehn Jahre alt – erweckte ein wunderbar schöner Vorfrühling die ersten dichterischen Regungen, „Frühlingslieder“, und bald brachte die deutsche Freiheits- und Einheitsbestrebung mir auch die deutsch-patriotische Begeisterung, die seither nicht mehr in mir erlosch; auch Balladen entstanden damals schon. Gleichzeitig – es war ein früher Fortschritt vom Knaben zum Jüngling! – erfaßte mich die erste „Liebe“ meines Lebens. Ich sah an einem Frühlingsabend ein wunderschönes Mädchen von dreizehn Jahren vor seinem Elternhause stehen; die Amsel sang, die Sonne ging zu Gold, heiß schoß mir’s in das Herz: ich rannte wie pfeilgetroffen lang, lang in die Einsamkeit des „Englischen Gartens“! Fünf Jahre hindurch habe ich das ahnungslose Kind täglich gesehen, gegrüßt, unzählige Verse an „Didosa“ gemacht. Ihr schönes, reines Bild hat mich vor jeder Jugendverirrung bewahrt. Gesprochen hab’ ich sie erst nach vierundzwanzig Jahren bei zufälliger flüchtiger Begegnung. Dank und Segen über sie!

Mit sechzehn Jahren bezog ich (1850) die Universität München. Mehr als Geschichte lockte mich damals Philosophie an, ich wollte Privatdocent der Philosophie werden. Den gewaltigsten Einfluß übte auf mich der als Forscher und Lehrer gleich ausgezeichnete Professor der Philosophie Karl von Prantl. Da ich aber kein Vermögen zu erwarten hatte und die Laufbahn eines Privatdocenten der Philosophie höchst zweifelhaft war, beschloß ich, neben der Philosophie die Rechte zu studieren – Rechtsphilosophie sollte mein Hauptfach werden – um mir für alle Fälle Boden unter den Füßen zu sichern.

Außer Prantl wirkte in München am stärksten auf mich der ganz hervorragende Germanist Konrad von Maurer, der unvergleichliche Kenner des Nordgermanischen. Im dritten Studienjahr (1852) besuchte ich die Hochschule Berlin, juristische und philosophische Vorlesungen zu hören. Dort erfolgte eine bedeutende Erweiterung des Gesichtskreises durch das Leben in der Gesellschaft der großen Stadt; ich ward durch Fritz Eggers eingeführt in den „Tunnel über der Spree“, einen Verein, dem die hervorragendsten Dichter und Schriftsteller des damaligen Berlin angehörten: Kugler, Fontane, Roquette, Lübke, Scherenberg und andere.

Nach München zurückgekehrt, machte ich 1854 die juristische Prüfung für den Abgang von der Hochschule und trat auf zwei Jahre in die juristische Praxis, um nach bestandenem „Staatskonkurs“ (Assessor-Examen) als Privatdocent der Rechte mich in München zu habilitieren. Nachdem ich (1855) als doctor juris promoviert und (1856) den „Staatskonkurs“ bestanden hatte, wollte mich der Minister Graf Reigersberg sofort in seinem Ministerium anstellen – ich war in der Prüfung der erste im Kreise, der zweite im Königreich gewesen – aber ich blieb der akademischen Laufbahn treu und habilitierte mich an der Münchener Juristenfakultät, wo ich volle sieben Jahre als Privatdocent ausharren mußte. Da nun ein kleines Honorar, das ich für die Mitleitung der „Bavaria“ – einer durch König Max II. veranlaßten Landes- und Volkskunde von Bayern – ein paar Jahre bezogen hatte, erlosch, ward es mir unmöglich, die fast jeder Einnahme entbehrende Stellung als Privatdocent aufrecht zu halten. Ich hatte die letzten drei Jahre jeden Tag viele Stunden Aufsätze in allerlei Zeitschriften und Zeitungen schreiben müssen, das Notwendige zu verdienen. Ich litt hart: ich erkrankte an Lungenentzündung. Mit Mühe hergestellt, mußte ich (1862) nach Meran, in den Süden, die stark angegriffene Brust zu heilen. Nur schwer war das möglich zu machen. Ich ging dann von Meran nach Mailand und Ravenna, in der Bücherei und in dem Archiv zu arbeiten. Als nach der Rückkehr die längst versprochene Anstellung immer noch ausblieb, sah ich mich gezwungen – mit wahrer Verzweiflung im Herzen! – der so heiß, der allein geliebten akademischen Laufbahn zu entsagen und als Concipient bei einem Anwalt einzutreten, ein Beruf, zu dem ich durchaus nicht paßte. Schon hatte ich die einleitenden Schritte gethan, als ich endlich – in allerletzter Stunde! – eine außerordentliche Professur in Würzburg erhielt (1863) und damit die Rettung für meine geistige Eigenart.

In der freundlichen Mainstadt begann nun für mich eine bessere Zeit. Das Leben in ländlicher Umgebung vor dem Sanderthor war heiter und fröhlich. Wie in München las ich deutsches Privat-, Handels- und Wechselrecht, deutsche Rechtsgeschichte, Rechts- philosophie und – als ein Neues – Völkerrecht. Schon 1865 ward ich ordentlicher Professor; ich führte nun mein in München begonnenes Werk über die älteste Verfassungsgeschichte der Germanen („Die Könige der Germanen“ I–VII. 1861–1894) fort und schrieb 1865 meinen Prokopius von Cäsarea. Das Jahr 1866 [91] brachte mir nicht nur die Beschießung durch die Preußen,[1] sondern auch, wie so vielen Millionen von Süddeutschen, die Wandlung meines bisheriger politischen Standpunkts. Ich war, wie fast alle meine Bekannten, „großdeutsch“ gewesen und hatte in Herrn von Bismarck nur den verfassungsfeindlichen Junker erblickt. Die Schutz- und Trutzbündnisse öffneten mir die Augen über die nicht bloß selbstisch-preußische, sondern die Einheit und Größe Alldeutschlands anstrebende Staatskunst dieses großen Mannes, als dessen begeistertesten Verehrer ich mich bekenne. Bald nach 1866 lernte ich meine jetzige liebe Frau Therese, geborene Freiin von Droste-Hülshoff, kennen eine Nichte der Annette von Droste. Es währte sechs Jahre (1868–1873), bis es nach unschilderbaren Kämpfen gelang, die namenlosen Schwierigkeiten zu überwinden, die von allen Seiten unserer Verbindung entgegenstanden. Diese Dinge können hier nicht verhandelt werden, ich verweise auf den IV. Band der „Erinnerungen“, der Weihnachten 1894 erscheinen wird. Als eine Erlösung aus unertraghar gewordenen Verhältnissen begrüßte ich den Ausbruch des Krieges von 1870. „In dieses Schicksal riesengroß flecht’ ich des eignen Lebens Los!“ schrieb ich damals in mein Tagebuch. Sofort meldete ich mich als Kombattant bei dem bayerischen, hier abgewiesen, ebenso erfolglos bei dem preußischen Kriegsministerim. „Hinein“ mußte ich, so schloß ich mich der Nothelferkolonne des hessischen Majors von Grolmann an, die das Recht hatte, dem Kronprinzen von Preußen auf die Schlachtfelder zu folgen. Unser Weg ging über Hagenau vor Straßburg, dann über Saarburg nach Nancy, von da über Bar-Le-Duc nach Beaumont, Mouzon und Sedan. Bei Beaumont und Mouzon trafen wir erst gerade nach dem Kampf ein, aber ich erachte es als das großartigste Glück meines Lebens, daß es mir vergönnt war, die große deutsche Siegesschlacht bei Sedan von morgens 7 Uhr bis zu ihrem Ende in unmittelbarster Teilnahme mitzumachen; auf der Chaussee zwischen Torey und Bazeilles begleitete ich den Angriff des 6. bayerischen Jägerbataillons auf eine Barrikade und erhielt nach deren Erstürmung den Prellschuß eines Granatsplitters an den linken Arm, der mich in den nahen Straßengraben – auf einen eben gefallenen Franzosen - warf, übrigens nur eine Quetschung bewirkte. Wieder auf die Straße gestiegen, sah ich – wohl einer der allerersten! – die weiße Fahne auf der Bastion von Sedan wehen und wies es unserem Hauptmann. Wie soll man das schildern! Wie den Jubel, als, etwa um 7 Uhr, in dem Städtlein Donchéry, wo wir lagerten, ein Husarenoffizier die Nachricht von der Kapitulation und Kriegsgefangenschaft Napoleons und seines ganzen Heeres verkündete! Weltgeschichte, größte That deutschen Heldentums hatten wir mit erlebt!

In den nächsten Wochen erkrankte ich in Donchéry am „Lazarettfieber“ (wohl Typhus) und brach ohnmächtig zusammen. Wiederhergestellt, ward ich von befreundeten Aerzten und unserem Major unverzüglich in die Heimat geschickt; ein nochmaliger Anfall wäre tödlich, hieß es. Im Lazarett zu sterben – das war freilich nicht mein Geschmack. So führte ich eine große Schar von Leichtverwundeten und Genesenden über Belgien und Luxemburg nach Trier und kehrte nach Würzburg zurück, wohin Würzburger Krankenträger, die mich mit blutbespritzten Kleidern im Straßengraben hatten liegen sehen, die Nachricht von meinem Tod gebracht hatten; sie geriet, meine Freunde erschreckend, in die Zeitungen. –

Noch zwei schwere Jahre vergingen, da erhielt ich (im Juni 1873) einen Ruf nach Königsberg. Am 3. August 1873 schloß ich daselbst die Ehe mit meiner geliebten Therese. Sechzehn Jahre – von meinem 38. bis in mein 54. – verbrachte ich in der lieben alten Stadt am Pregel, die mir so ganz ans Herz gewachsen ist; war sie doch die Stätte, da unser unschilderbares Glück erblühte und da meine dichterischen Leistungen die ersten Erfolge errangen; und welch treffliche, treu anhängliche Schüler gewann ich an den Ostpreußen! Im Jahre 1889 im März vertauschte ich Königsberg mit Breslau, das ich sowohl Marburg wie Bonn vorzog. Es hat mich nicht gereut. Die der jüngsten Vergangenheit angehörigen fünf hier verlebten Jahre entziehen sich der Besprechung.

Vielmehr ist nun in Kürze wenigstens Einiges von meiner Entwicklung als Dichter und Gelehrter nachzuholen.

Von Anbeginn hatte die Einbildung des Dichters und den Eifer des Forschers am mächtigsten angezogen die Zeit, da das auftauchende jugendliche Germanentum auf die sinkende Römerwelt und das weltflüchtige Christentum stieß. So haben denn meine rechtsgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Arbeiten fast ausschließlich jene Dinge und Zeiten (bis etwa 814) zum Gegenstand.

Meine Weltanschauung habe ich außer in meinen philosophischen Schriften (z. B. „Die Vernunft im Recht“ 1879 und „Bausteine“ IV. 1883) auch in meinen Romanen ausgesprochen: so in „Sind Götter?“ (1874), „Odhins Trost“ (1880), „Odhins Rache“ (1891), dann dem König Teja (im „Kampf um Rom“) und dem Merovech in „Julian dem Abtrünnigen“ in den Mund gelegt.

Was meine Dichtung anlangt, so bekundete gleich meine früheste Veröffentlichung, „Harald und Theano“ (1855), jene Neigung zu der Zeit der „Völkerwanderung“, ich bin ihr bis in den eben erschienenen „Julian“ treu geblieben; habe ich doch eine Anzahl kleiner Romane aus der „Völkerwanderung“ geschrieben, die aber keineswegs, wie man – unbegreiflichermaßen! – behauptet hat, lediglich das Heldentum-Motiv des „Kampfs um Rom“ wiederholen; wo ist in „Felicitas“, „Bissula“, „Die schlimmen Nonnen von Poitiers“, „Fredigundis“, diesen Seelenmalereien und (zum Teil) Idyllen, jenes Motiv? Ueber jene Zeit hinab greifen die Erzählungen „Bis zum Tode getreu“, „Weltuntergang“ und „Die Kreuzfahrer“, deren Stoffe der Zeit Karls des Großen, dem Jahre Tausend n. Chr. und den Tagen Friedrichs II. entnommen sind.

Aeußerlich betrachtet, hatte den größten Erfolg der Roman „Ein Kampf um Rom“ (1876. 19. Aufl. 1893). Der Stoff erwuchs mir aus meinen Forschungen über das Ostgotenreich in Italien schon 1859. Die Kämpfe, die Oesterreicher, Italiener und Frannzosen in jenen Jahren um das schöne Land führten, regten allerlei Vergleiche, besonders aber geschichtsphilosophische Fragen an; vor allem jedoch war der großartige Gegenstand geeignet, meine Weltanschauung, die durchaus nicht pessimistisch ist (das ist mir ein Greuel!), aber tragisch-heroisch, dichterisch zum Ausdruck zu bringen. Lange stockte die Fortführung des Werkes – sie war nur bis zum Tode des Vitiges gediehen – und in Königsberg wollte ich (Winter 1873) die ganze Handschrift ins Feuer werfen. Die Dichtung schien mir zu archäologisch, zu gelehrt; schon kniete ich, die Blätter in der Hand, vor der geöffneten Ofenthür, da fiel mein Blick auf die Schilderung von Teja und Totila; ich stand auf, das meiner lieben Frau vorzulesen – sie kannte das Ganze nicht – bevor es die Flammen verzehrten; sie legte so warme Fürbitte ein, daß ich die Vernichtung aufschob, dann, nachdem ich ihr das gesamte Fertige vorgelesen, ganz aufgab und die Vollendung beschloß. Ist es ein Verdienst, jenes Werk gerettet zu haben, so gebührt der Dank dafür Theresen.

Schon in München hatte ich, ein begeisterter Schüler Jakob Grimms, über die Edda gelesen und auch sonst eifrig in germanischer Mythologie und Heldensage geforscht; nun gab ich eine volkstümliche Darstellung der germanischen Göttersage heraus, der nach vieljähriger selbständiger Arbeit Therese die der Heldensage anfügte („Walhall“, 1884). Drei Jahre darauf (1887) veröffentlichte sie ein Buch über Karl den Großen und seine Paladine, in welchem ich nur die geschichtliche Einleitung verfaßte. Meine Erzählung „Rolandin“ (1891) ist aber nicht im Zusannmenhang mit diesen Roland- Sagen entstanden. Als kleine Späne, wie sie in der Werkstatt bei der Arbeit an breiteren Stücken abfallen, sind anzusehen die dünnen Erzählungen „Was ist die Liebe?“ (1888), „Friggas Ja“ (1888), „Skirnir“ (1889), „Odhins Rache“ (1891), „Die Finnin“ (1888 bis 1892), die freilich immer wiederkehrende seelische Fragen in jenem altnordischen Rahmen aufstellen und zu lösen versuchen.

Was meinne Lyrik und lyrische Epik anlangt, so ward sie für die Ballade angeregt durch Percys „Reliquien der altenglischen Dichtung“, durch Walter Scotts „Gesänge des schottischen Grenzlands“, durch Uhland und durch Theodor Fontane. Für die reine Lyrik und für die lehrhaft philosophische wirkte eine Zeitlang sehr stark Rückert, der schon „Harald und Theano“ und die erste Gedichtsammlung (1856) warnn begrüßt hatte. Er lud den Unbekannten in sein Haus; das wahrhaft schöne Idyll dieses Besuches in seinem Landhaus zu Neuseß bei Koburg mag man in dem III. Band der „Erinnnerungen“ betrachten. Jenem ersten Bändchen folgten noch vier Sammlungen: II. Sammlung (darunter auch etwa 50 Gedichte von Therese) (3. Auflage 1883), III. Balladen und Lieder 1878, IV. Sammlung (Felix und Therese Dahn) 1892. V. Vaterland 1892. Der schnöde Vorwurf, ich sei erst patriotisch geworden [92] nach 1871, „da es keine Kunst mehr gewesen“, wird widerlegt durch die schon 1849 bis 1866 entstandenen, in die erste Sammlung von 1856 (und in die zweite) aufgenommenen Vaterlandsgedichte. Meine deutsche, liberale, den Partikularismus wie die Ultramontanen bekämpfende Gesinnung war mir in Bayern von 1852 an gar vielfach ein Hemmnis; hielt man doch an entscheidender Stelle die „Könige der Germanen“ für eine die Vorherrschaft Preußens empfehlende Arbeit (sie schließt mit dem Jahre 814!). Ebenso falsch ist der Vorwurf, mein Drama „König Roderich“ sei ein erst während des „Kulturkampfes“ (1874) zu dessen Verherrlichung geschmiedetes Tendenzdrama. Ein Mann, der 1874 schon etwa 15 Jahre vom Studium des Mittelalters hinter sich hatte, brauchte wahrlich nicht erst den Kulturkampf, um auf den echt tragischen Stoff des Kampfes zwischen Staat und Religion aufmerksam zu werden, den ja schon ziemlich früher der selige Sophokles in seiner „Antigone“ behandelt hat. Könng Roderich ist entstanden, als ich 1869 bis 1871 den Untergang des Westgotenstaates studierte, also lange vor jenem Kampf; daß die Aufführung seit 1874 vermöge jener Aufregungen stärkeren Erfolg hatte, ist selbstverständlich. Meine übrigen Dramen, „Markgraf Rüdiger“ (1875), „Deutsche Treue“ (1875), „Staatskunst der Frauen“ (1877), „Sühne“ (1879), der „Kurier nach Paris“ (1883), „Skaldenkunst“ (1882), hatten nicht den gleichen Erfolg wie „König Roderich“, der in Berlin, Hamburg, Königsberg und anderwärts zusammen etwa hundertzwanzigmal gegeben ward. Zwar gefielen sie, wo und wann sie aufgeführt wurden, aber sie wurden eben nicht oft aufgeführt! Neben recht vielen äußeren Gründen dieses Nichterfolges wiegt am schwersten der innere, daß meine Stoffe, die Zeit, in der sie spielen, die heutigen Theaterbesucher eher abstoßen als anziehen, und was jene anzieht, dessen ekelt es mich.

Ganz unmöglich ist es, hier auch nur die Namen alle aufzuzählen der Männer, die als Gelehrte und Dichter (und Freunde wie Scheffel und Steub) auf mich eingewirkt haben: von Rückert, den Berliner Tunnelgenossen, den Münchener „Krokodilen“ (Geibel vor allen, dann Wilhelm Hertz) bis zu den Würzburgern, Königsbergern und Breslauern (d. h. den in diesen Städten Lebenden, die aber oft ganz wo anders her waren und sind). Hierfür muß ich auf die „Erinnerungen“ verweisen.

Felix und Therese Dahn.
Nach einer Aufnahme von N. Raschkow jun., Hofphotograph in Breslau.

Ziehe ich nun die Rechnung meines Lebens, so sahen wir, daß ich in München um Haaresbreite gezwungen ward, die akademische Laufbahn und alle Geistesfreiheit aufzugeben. Die Hauptursachen einer späten und langsamen „Karriere“ sind der Mangel an jeder ... nun, sagen wir Betriebsklugheit in mir und dann das „verfluchte Dichten“, das ja den echten und gerechten Profeffor Kaste verlieren läßt unter seinen Amtsgenossen.

Habe ich also in der praktischen Lebensgestaltung nie Glück gehabt – was ich errang, hab’ ich schwer arbeitend errungen – so ward mir doch das unaussprechliche Glück, den Traum meiner Knaben- und Jünglingszeit, die Herstellung des Deutschen Reiches, sogar die Wiedergewinnung der Reichslande zu erleben, ja die großartige dramatische Entscheidung des Kampfes mit Frankreich bei Sedan mit Augen zu sehen. Das allein würde alle nicht geringen Schmerzen meines Lebens voll aufwiegen! Und ich habe das ebenfalls unaussprechliche Glück gehabt, meine Therese gefunden und schließlich erkämpft zu haben; ich glaube nicht, daß es eine glücklichere Ehe geben kann, als die unsere seit nun zwanzig Jahren ist.

Als Dichter ward ich bis auf „König Roderich“ und den „Kamps um Rom“ überhaupt nicht beachtet, später hat man mich dann wohl auch überschätzt (zumal wegen des „Kampfs um Rom“, dem ich aber „Odhins Trost“ „Rolandin“ und „Sind Götter?“ vorziehe). Denn ich bin nur ein Dichter dritten Ranges, wenn Goethe und Schiller ersten, Uhland, Rückert, Platen, Scheffel zweiten Ranges sind. Ich glaube, diese meine aufrichtige Selbsteinschätzung ist nicht eitel und unbescheiden.

Aber eins wird bleiben und nachwirken im deutschen Volke, wann meine Dichtungen vielleicht vergessen sind: das ist der Same von Idealität und Begeisterung, der Same von Enthusiasmus für Wahrheit, für Aufopferung, eben für „Heldentnm“ im Dienst des Vaterlandes und der Idee, den ich seit nun zweiundsiebzig Semestern in junge Seelen gestreut habe. Ich habe Glück als Lehrer mit den jungen Leuten, weil sie spüren, daß ich ein Herz – ach immer noch ein junges! – für sie habe und daß ich’s gut mit ihnen, ernst mit der Wahrheit meine. Es ist eine stattliche Schar von „Gefolgen“, von denen ich sagen darf, daß ich entscheidend auf ihre Entwicklung eingewirkt habe. Und diese meine ideale Einwirkung auf deutsche Jünglinge und Männer wird fortdauern, wann vielleicht meine anderen Leistungen tot liegen. So werde ich – unbemerkt und ganz bescheiden – fortleben in meinem Volke.



  1. Ueber meinem Dache kreuzten sich die habsburgischen und die hohenzollernschen Granaten, unter denen hinweg ich ruhig in die Universität ging, eine angesagte Prüfung abzuhalten, bei der außer mir nur noch 1 Professor und 0 Student erschien.