Schweizer Pensionen und Pensionaire

Textdaten
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Autor: E. Kossak
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Titel: Schweizer Pensionen und Pensionaire
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 508–512
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Schweizer Pensionen und Pensionaire.

Von E. Kossak.

In seinen Jugendjahren, im Zustande der größten Empfänglichkeit für jenen geistigen Nahrungsstoff, mit welchem der Mensch bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre systematisch genudelt wird, um das nöthige wissenschaftliche Fett für seinen späteren Verbrauch als Staatsbeamter anzusetzen, thut man ihn in allen Fällen, wo Familie und Haus nicht im Stande sind, das nöthige Material herbeizuschaffen, in eine Pension. Später, wenn er seine Pflicht gegen das Oberhaupt seines Landes genügend erfüllt hat und seine Dienste bei abnehmenden Kräften nicht mehr der Höhe des ihm bisher gezahlten Salairs entsprechen, läßt man eine verhältnißmäßige Verminderung desselben eintreten, kennzeichnet ihn im günstigsten Falle durch ein Ordensbändchen unscheinbarster Art und thut ihn abermals in Pension.

Beide feierliche Acte, eine so geringe Aehnlichkeit sie auch für den leichtfertigen Beobachter zu haben scheinen, gehen doch aus dem Bestreben hervor, für die Wohlfahrt der menschlichen Genossenschaft zu sorgen und brauchbare Rekruten für den Dienst in Krieg und Frieden, in der Armee der Büreaukratie, in der Kirche und Schule herbeizuschaffen und auszubilden, sowie die Invaliden und Veteranen zu entfernen und ihr Leben zu fristen. Als charakteristisches Merkmal dieser beiden Pensionirungsarten darf der Umstand gelten, daß sie gewöhnlich vor sich gehen, ohne daß die davon Betroffenen befragt, ja daß sie meistens bei Jungen und Alten wider ihren Willen über sie verhängt werden.

Davon abweichend, obgleich auf der Idee der Erhaltung des Individuums für den Staat oder die Gesellschaft beruhend, besteht eine mittlere Gattung der Pensionirung in der zeitweiligen Entfernung des durch amtliche Dienstleistungen und geistige Anstrengungen, oft auch durch Mißhandlungen der Vorgesetzten oder Uebelstände des städtischen Lebens ermüdeten und geschwächten Sterblichen aus seiner gewöhnlichen Lage, und in der Versetzung an einen anmuthigen Ort und in eine möglichst sorgenfreie Lage. Diese Pensionirung pflegt aus der freien Wahl des gequälten Individuums hervorzugehen und zu den Lichtblicken im modernen Sclavenleben gerechnet zu werden. Sie findet statt, wenn dasselbe auf der Höhe des Lebens und der Casse, der Sommer aber in seiner Blüthe steht. Da zur Stärkung des Geistes und Leibes Alles darauf ankommt, den directen Gegensatz der gewöhnlichen Lebensweise, des landschaftlichen Aufenthaltes und selbst der staatlichen Verfassung zu wählen, empfiehlt sich allein das höchste Gebirgsland

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In der Nußbaumallee von Interlaken.
Originalzeichnung von H. Jenny.


Europa’s, die Schweiz, in der alle erforderlichen Bedingungen sich vereinigen, zur Aufnahme der nach Erholung lechzenden Pensionäre des civilisirten Welttheiles. Als eine Republik von großer Toleranz vereinigt sie die feindlichsten Parteien in ihren Cantonen und gewährt ihnen sämmtlich durch die Reinheit ihres politischen Dunstkreises, durch die Abwesenheit aller ansteckenden Miasmen und die friedliche Bürgerlichkeit ihrer Wohnstätten auch Gelegenheit zu moralischer Erfrischung. Wir sehen daher nicht allein die gequälten Kasten der monarchischen Staaten, sondern auch hoch- und höchstgestellte Personen, Minister, Prinzen, ja selbst Könige, zeitweilig ihren Aufenthalt in der Schweiz, wenn auch eben nicht in den für gewöhnliche, nicht mit blauem Blute versehene Creaturen bestimmten Pensionen wählen und eine Reihe von Bädern in der Fluth der allgemeinen Gleichheit des herrlichen Landes nehmen.

Das verständige Volk der Schweizer ist sich der Wichtigkeit seiner Mission gar wohl bewußt. Die Natur hat ihm die schneeigen Berggipfel, die blauen Seen, die blühenden Matten und stäubenden Wasser in weisem Vorbedacht als ein nationalökonomisches Hülfsmittel gegeben, und es war von jeher eifrig bestrebt, nach der Vorschrift der Bibel mit seinem Pfunde zu wuchern.

Begeben wir uns sofort an den Hauptort des europäischen Pensionssystems, wo wir am leichtesten seine hauptsächlichen Grundzüge kennen lernen werden; versetzen wir uns auf dem Feenteppich des Zauberers aus Tausend und eine Nacht unmittelbar nach Interlaken, in das Paris der Pensionen.

Zwischen dem Thuner und Brienzer See, am linken Ufer der Aar, hat die Natur im Verlaufe vieler Jahrhunderte ein Stück Land trocken gelegt, wie es in ähnlicher Anmuth kaum noch einmal zwischen der Nordsee und dem Mittelmeere gefunden werden dürfte. Aus dem üppigen Wiesengrund, den riesige Nußbäume beschatten, blicken tiefdunkele Vorberge, grüne Alpen, kahle Felsgipfel und zuletzt die weißen Gipfel der Jungfrau, aus dem Hintergrunde des Brienzer See’s ragen die Sustenhörner empor, allerlei malerisches Steingezack begrenzt den Horizont gen Westen, nur die Nordseite wird durch eine hohe steile Felswand gegen alle rauhen und nachtheiligen Winde geschützt. Was Himmel und Erde Süßes und Liebliches uns zu schenken vermögen, findet sich an dieser Stätte [510] beisammen, Wärme und Wohlgerüche, Klarheit und herrliche Farbenspiele in der Luft, Kühle und Reinheit der Luft. Der Ort gleicht einer stummen Einladung an den Menschen, sich hier niederzulassen, alle seine vergangenen Leiden zu vergessen und in Anschauung der herrlichen Natur sich auf sein ursprüngliches besseres Selbst zu besinnen. Diese Vereinigung der glücklichsten Umstände erklärt, weshalb die pensionsbedürftigen Creaturen sich von jeher gerade nach Interlaken hingezogen fühlten.

Wenn in den nordischen Landen in den Gärten der großen Städte die Gurke und an den Abhängen der Alpen die duftende Erdbeere heranreift, wenn das Parlament in London vertagt ist, und der arbeitsscheue Bundestag von seinen Auftraggebern aus Frankfurt a. M. in die Ferien entlassen wird, wenn bei den erschöpften Gerichten alle Processe nothgedrungen eine Unterbrechung erleiden müssen und nur das heilige Recht des Wechsels unverkümmert bleibt, wenn alle Diplomaten, Minister und Generäle gleich Fliegen und Mücken umherschwärmen, der fleißige Arbeiter aber die Früchte des Feldes im Schweiße seines Angesichts einzuheimsen beginnt: dann strömt das von den Anstrengungen der Wintersaison, von der Arbeit an den Actentischen, in den Studirstuben, am Wechseltisch, durch das Gerede von den Tribünen aufgeriebene Volk in Interlaken zusammen und sucht seine Kräfte in dem unvergleichlichen Thalgrunde zu erneuern. Die Mitglieder der verschiedenartigen Kasten und Rangclassen entledigen sich weislich ihrer Abzeichen, die Uniformen werden abgelegt, die Ordensbänder aus den Knopflöchern gelöst, die Reiterstiefeln mit Sporen von den Füßen gezogen, die martialischen Schnurrbärte, da sie nicht mehr unglücklichen Philistern, Portiers und Hausknechten in Hotels Schrecken einzuflößen brauchen, auf ein menschenähnliches Maß reducirt, Säbel und Galanteriedegen, Epauletten und Schärpen läßt man zu Hause; sämmtliche Pilgrime zu den Schweizer Pensionen suchen sich einen Anstrich von bürgerlicher Gleichheit, von bescheidener Anspruchslosigkeit zu geben und, wenn irgend möglich, das, was sie in der Wirklichkeit vorstellen, unter einer unscheinbaren oder gewinnenden Maske zu verbergen. Der Präsident des Criminalgerichts bedeckt sein buschiges, von graublonden Haarbüscheln umwölktes Haupt mit einem grauen oder braunen Schützenhütchen, um welches sich ein breites grünes Band schlingt; der bejahrte Banquier kleidet sich in eine leichtsinnig nach englischem Muster anfertigte Reisetracht, wie sie beurlaubte Officiere auf Reisen anzulegen lieben, Rock, Hose und Weste Grau in Grau oder Colorit dünner Milchchocolade; der vergilbte, fast schon der Bücherlaus verfallene Professor Ordinarius sucht für Geld und gute Worte eines Gemsbartes habhaft zu werden und befestigt ihn an seinem Calabreser; Obristlieutenants christlicher Staaten bekleiden sich mit rothen Garibaldihemden; Jedermann strebt nach einem poetischen, den Alpen entsprechenden Anhauch und sucht seinen alltäglichen bürgerlichen Beruf dahinter zu verbergen.

Der weise Schweizer leidet in dieser Hinsicht an keiner krankhaften Neugierde, seine Beamten lassen die Ankömmlinge ohne peinliche Beschnüffelung der Pässe und des Gepäcks über die Grenze, der Hausbesitzer fragt nicht nach Namen und Stand, sondern gestattet tolerant genug seinem Gaste, sich nach Belieben in die Fremdenliste zu schreiben; nur in einem Punkte soll der Tourist sich legitimieren können: im Achsenpunkte. Sein Geldbeutel muß mit dem nöthigen Vorrathe von Napoleonsd’or, Franken und Rappen versehen sein, von welcher letzteren, bekanntlich in Billon geprägten Scheidemünze, nach den jüngsten philologischen Untersuchungen, der neuerdings sehr in Aufnahme gekommene Ausdruck „berappen“ stammt. Die ganze Ebene zwischen den genannten beiden Seen ist mit „Phalansterien“ bedeckt, deren Anblick im ersten Augenblicke den großen Socialisten Fourier in Erstaunen versetzen müßte. Ob diese Anstalten nun Villen, Hotels, Pensionen oder Chalets genannt werden: sie sind sämmtlich von Angehörigen europäischer Staaten bewohnt, die sich der naturphilosophisch entworfenen schweizerischen Hausordnung gefügt und ihre persönlichen Angewohnheiten und Liebhabereien ganz an den Nagel gehängt haben. Nur zwischen den Pensionen selber bestehen hinsichtlich der Abstammung, der Sprache ihrer Insassen, der Preise und Hausgebräuche einige Unterschiede; einmal in eines dieser Institute einrangirt, hat sich Jeder seinen bestimmten Gesetzen zu fügen, oder das Haus zu verlassen und ein ihm zusagenderes Unterkommen zu wählen. Im Innern der Phalansterien oder Pensionen werden keine Unterschiede mehr gemacht. Nachdem die Koffer von dem Dache des Omnibus abgeladen und die nothwendigen Präliminarverhandlungen zwischen dem Besitzer des Hauses und seinem Pensionär beendet worden sind, scheidet Letzterer aus der bisherigen Welt. Die Aufhebung der irdischen Ungleichheit, wie sie sich in den sibirischen Bergwerken, in den Zuchthäusern und im Grabe von selbst einfindet, wird in den Pensionen in voller Absichtlichkeit auf die liebenswürdigste Weise vollzogen. Man läßt dem Gaste zwar seinen Namen, aber in dem Wirthschaftsbuche des Pensionsvorstehers ist er nur eine Nummer. Von Seinesgleichen unterscheidet er sich höchstens durch eine bessere Flasche Wein, durch eine Nachmittags genossene halbe Tasse Kaffee, durch etwas mehr Leibwäsche, durch zwei Lichte; größere Excesse in Ehrgeiz und Luxus kann ein Pensionär kaum begehen. Auch insofern gleicht er dem gezwungenen Bewohner eines Zellengefängnisses, dem von seinem Ueberverdienste höchstens die Anschaffung eines Härings erlaubt wird. Er hat keine Stellung mehr in der Gesellschaft; er steht nur noch auf der Liste seines Pensionsinhabers. Der Tag seiner Ankunft bestimmt allein über seinen Platz an der Mittagstafel. Und wenn er der Ministerpräsident des Königs von Dahomey, der Großadmiral der hannöverschen Flotte, ja wenn er ein Mitglied des preußischen Herrenhauses wäre: ist er erst am Donnerstag Morgen eingetroffen, so erhält er seine Stelle unterhalb des dritten Tenoristen von der Oper angewiesen, der sich schon seit Mittwoch Abend im Hause befindet. Der am längsten im Hause anwesende Pensionär behauptet stets den Vorsitz bei Tafel, und jeder Tag des Aufenthaltes hebt den Gast auf der Staffel empor. Bei einem solchen System kann selbst ein Junge von 18 Jahren sich zum Alterspräsidenten emporschwingen. Auch außer dem Hause herrscht vollkommene Gleichheit, wie aus der Zeichnung unseres Künstlers auf das Deutlichste hervorgeht. Die geschätzten Vierfüßler der Gegend werden ihres Nutzens wegen den Einwanderern nicht nachgestellt und dürfen sich gleichfalls der Promenade bedienen. Von jenen peinlichen Brunnenvorschriften in deutschen und französischen Bädern, die den Landmann und seine jüngeren Angehörigen, den Hund und die Tabakspfeife ausschließen, findet sich keine Spur. Die herrliche Nußbaumallee von Interlaken gehört Allen, dem italienischen Vetturin, der seine Rückfracht über die Alpen, und dem kleinen Schweizerbuben, der einen Käufer für den eingefangenen Hirschkäfer oder die große Ligusterraupe sucht, durch deren Anblick er den vorübergehenden Damen Krämpfe verursacht, dem abgezehrten Schwindsuchtscandidaten und dem fetten Consul aus Smyrna, der Pariser Lorette und dem armen Fischer vom Thuner See, dem kleindeutschen Prinzen und dem nicht amnestirten Flüchtling, der hier an jedem Morgen mit dem apanagirten Vetter seines gestrengen Landesherrn zusammentrifft und schwermüthige Betrachtungen über die Langmuth der Vorsehung anstellt.

Exclusive Festlichkeiten, bei denen Ehrgeiz und Großthuerei zum Vorschein kommen können, werden nicht veranstaltet, ebenso wenig sind gewisse moderne Vergnügungen erlaubt, die in den deutschen Gauen sogar noch zum guten Tone der Gesellschaft gehören. Die Prytanen in Bern haben sich in ihrer väterlichen Weisheit der beabsichtigten Anlage eines „Alpenbänkchens“ widersetzt, auf das sich einige strebsame Schüler des großen Fazy aus Genf schon gefreut hatten. Die ehrwürdigen Väter der Schweiz hielten es der moralischen und leiblichen Gesundheit ihrer Gäste für zuträglicher, dem Genuß der Ziegenmolken, als dem der Roulette und Trente et Quarante obzuliegen, und verscheuchten die Gauner aus dem friedlichen Thale. Gewiß ist es besser, wenn die Sparpfennige der Touristen von Europa in die Hände der Wirthe, Führer, Kutscher, Pferdeknechte, Träger und Sennen, als in die der Croupiers aus der Schule Blanc’s und Benazet’s übergehen. Geistig aufregende Beschäftigungen werden auch sonst kaum begünstigt. Hat sich der Pensionär nicht mit einem Büchervorrath schon von Hause her versehen, die Bibliothek von Interlaken vermag nur die mäßigsten Ansprüche zu befriedigen. Interlaken darf nicht zu einer Spielhölle, einem Cur- oder Badeorte gemacht werden; nach der Intention der Schweizer soll es nach wie vor die erste aller Sommerfrischen des Continents bleiben. Die eiserne Consequenz des Pensionssystems wird es trotz der zunehmenden Strömung der reichen und vornehmen Gesellschaft hoffentlich dauernd vor ihren Plagen bewahren.

Die Grenzen der Schweiz sind weit ausgedehnt, und aus allen vier Weltgegenden strömen in den warmen Sommermonaten die Flüchtlinge der monarchischen Staaten in die Pensionen der Republik. [511] Haben doch selbst die gegenwärtig von dem Druck der Regierungslasten befreiten italienischen Fürsten, z. B. die Herzogin von Parma, die dargebotene Wohlthat nicht verschmäht. Wir wissen nicht gewiß, ob sie sich gerade in „Pension“ gethan hat, aber sie wohnte wenigstens einen ganzen Winter hindurch in dem am Züricher See gelegenen Hotel Baur. Ein Professor des dortigen Polytechnikums erzählte uns bei unserer letzten Anwesenheit in Zürich folgende hübsche Anekdote. Der Wirth Baur, welcher durch allerlei kostspielige Bauunternehmungen und den Ankauf eines neuen Grundstückes oben am See vorübergehend in Geldverlegenheit gerathen war, sah sich durch den langen Aufenthalt der herzoglichen Familie und ihrer Hofstaaten aus seiner mißlichen Lage erlöst und mit den frohesten Hoffnungen auf die Zukunft erfüllt. „Wenn das so weiter geht, wenn noch mehr Herzöge und Fürsten herkommen,“ sagte der gute Mann in der Freude seines Herzens, „bei Gott, dann wird Venedig in ein paar Monaten frei!“ (Venedig hieß nämlich auch das erwähnte kleine Grundstück am See.)

Ueber den Bodensee aus Süddeutschland, vornehmlich aus Schwaben, kommen die Sommerbewohner des Cantons Appenzell. Hier, wo noch nicht die höhere Pension sich eingebürgert hat, ist der geeignete Aufenthalt für einfache Leute, die drei Kreuzer für den Schoppen Ulmer Bier und sechs Kreuzer für das aus Weizengebäck, Butter und Käse bestehende „Vieruhrbrod“ zu zahlen gewohnt sind. Im Canton Appenzell wird der Mensch noch wöchentlich für zwanzig Franken beherbergt und beköstigt. Nur wenn ihn nach Molken gelüstet, muß er, als Curgast, täglich eine Kleinigkeit zulegen. In diesem glücklichen Landstriche versammeln sich die Freunde der kräftigen reinen Milch, der Erdbeeren und Forellen. Der Malzextrakt wird die Gegenden südlich vom Bodensee nicht um ihren altbewährten Ruf bringen, schon oft durch ihre Molken und die köstliche Bergluft der mörderischen Schwindsucht Stillstand geboten zu haben.

Vom Bodensee aus verbreitet sich der Schwarm der Pensionäre über die östliche und westliche Schweiz, während die eigentlichen hastigeren Touristen die Route über Basel mit ihren Eil- und Nachtzügen den badischen und mitteldeutschen Eisenbahnen vorziehen. Die Dampfschifffahrt quer über den See für einen Gulden auf dem ersten Platze leitet viel gemüthlicher die vierwöchentliche billige Pension ein. An allen See’n, in allen Thälern trifft der Reisende auf dergleichen gastliche Stätten, auch die Wirthe, wenn ihre Hotels nicht an den besuchtesten Knotenpunkten des Verkehrs liegen, bequemen sich zur Aufnahme von Pensionären, ja selbst die Privatleute suchen, als verständige Industrielle, in der kurzen Sommerzeit ihre Einnahmen auf dieselbe Weise zu verbessern. Die besten Zimmer des Hauses werden den Gästen eingeräumt; der Wirth und seine Familie behelfen sich mit den dürftigsten Kammern des Hauses. Die kleinen Städtchen am Ufer des Vierwaldstätter und Züricher Sees wimmeln von Pensionären; sie ziehen sich bis in die stillen Thalschluchten hinein, je nachdem ihr Naturell von geselliger oder beschaulicher Beschaffenheit ist. Von dem Comfort der großen Wirthschaften von Interlaken hat man hier keine Ahnung, man nimmt noch nicht jene schwächliche Rücksicht auf den Appetit der Gäste, zweimal täglich Mittagsessen zu kochen und ihnen die Wahl zwischen dem Diner um ein oder um vier Uhr zu überlassen; die Lebensarten sind noch durchaus einfach und entsprechen dem billigeren Preise. Morgens wird mit einer reichlichen Mischung von „Wegelugger“ – Botaniker mögen entscheiden, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen diese Pflanze mit unserem künstlichen Cichorienpräparat steht – Kaffee gekocht, bei dem kein Mangel an Milch, Zucker, frischer Butter und braunen Semmeln herrscht. Sollten in dem üblichen Honiggefäß ungewöhnlich viele Fliegen ihre Tod durch Unvorsichtigkeit gefunden haben, so darf man den Dienstboten und Rettungsanstalten nicht die Schuld beimessen. Der Honig ist überaus klebrig und die Fliege naschhaft. Der Pensionär darf seine Kaffeestunde beliebig zwischen sieben und neun Uhr Morgens wählen; später bleibt er sich selber überlassen. Befindet sich ein See oder ein Bach in der Nähe, so kann er seine Angel auswerfen; ist kein Wasser da, so wälzt er sich vielleicht den Vormittag über im Grase und badet sich im Sonnenschein und der stärkenden Luft der Höhen; hat er seine Kinder mitgebracht, so sammelt er mit ihnen Erd- und Blaubeeren, pflückt Blumen und fängt Schmetterlinge; fehlt es ihm nicht an Bildung und Kenntnissen, so liest er, botanisirt oder sucht allerlei Mineralien, läßt sich von unbeschäftigten Jägern anlügen oder macht endlich einen ästhetischen Spaziergang mit Reimübungen. Um ein Uhr findet regelmäßig die Hauptfütterung statt. Bei einem Pensionsbetrage von drei Franken, dem Minimum, täglich besteht sie nur in einer ungekünstelten Suppe, einem derben Gemüse und Braten und einem handfesten Pudding am Sonntage. Wo Fische reichlich vorhanden sind, fehlen sie bei keiner Mittagstafel. Als Dessert sind Haselnüsse und eine Sorte kleinen Confectes beliebt, das sich seiner angestammten Dürre wegen mehrere Jahrhunderte hindurch aufbewahren läßt und seinem Recepte nach unfehlbar von den Conditoren der alten Helvetier abstammt. Begehrt der Pensionär Wein oder Bier, so bezahlt er es natürlich aus seiner Tasche, man verübelt ihm jedoch nur an den wenigsten Orten, wenn er den Durst in dem auf dem Tisch stehenden Quellwasser löscht. Von ein bis sieben oder acht Uhr Abends ist der Pensionär entlassen. Er zieht sich in seine Gemächer zurück, um zu schlafen, er spielt im Schatten der Veranda mit den Collegen Boston oder Whist, er raucht auf dem Balcon Angesichts des Hochgebirges seine Cigarre und liest den neuangekommenen „Bund“ oder das in den Pensionen die Runde machende Exemplar des „Postheiri“, oder er steigt auf die nahen Berge. Das Läuten der Glocke versammelt Abends wieder die ganze Hausgenossenschaft um den Theetisch. Sind Patienten unter den Pensionären, so erhalten sie eine die Nerven beschwichtigende warme Suppe. Kalte Küche, Käse und Früchte, gewöhnlich Erd- und Himbeeren, stillen den Hunger der Uebrigen. Nach Tisch beobachtet man das etwaige Alpenglühen, oder man begiebt sich nach dem Posthause, um den letzten Wagen abzuwarten und die neuen Ankömmlinge in Augenschein zu nehmen, man macht landwirtschaftliche Studien an dem Vieh, wenn es nach Hause kommt, oder man fährt auf dem Wasser, falls die Pension nahe an einem See liegt. Es giebt geduldige Leute, die ihre Sommerferien damit ausfüllen, am Ufer auf den Balken zu sitzen, die ankommenden Dampfer zu erwarten und ihnen so lange als möglich nachzublicken, wenn sie abgefahren sind.

Regnen Pensionen ein, so pflegt ihr Zustand fürchterlich zu werden. Regenwetter ist unter diesen Umständen das größte Uebel. Der Mensch kann vor Langerweile auf eben so arge Teufeleien verfallen, wie durch den Antrieb seiner Laster; der aus den großen Mittelpunkten der Civilisation kommende Pensionsmensch natürlicher Weise am leichtesten. Nicht allein im Verhältniß der Staaten untereinander ist die Aufrechthaltung des Friedens eine bedenkliche und schwierige Sache; auch in den meisten Pensionen schwebt die Gesellschaft gewöhnlich am Rande der Kriegserklärung. Je größer die Pension, je zusammengesetzter in ihren einzelnen Bestandtheilen, je gedrängter in ihren architektonischen Einrichtungen: desto straffer wird ihre Kriegsbereitschaft sein. Wer seinen Sommerfrieden sichern will, thut daher wohl, von vornherein alle umfangreichen, geschäftsmäßig verwalteten Phalansterien zu meiden und sich bei einfachen Bürgern oder Bauern einzumiethen. Wir haben erlebt, daß über ein Fenster, welches eine der Parteien unter Anführung eines Rechtsanwaltes geöffnet, eine andere, als deren Wortführer ein Arzt aus Berlin galt, verschlossen haben wollte, während der Mittagsmahlzeit eine Fehde ausbrach, welche einen ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Interlaken und der benachbarten Pensionen vor den Fenstern des Speisesaales versammelte, und mit gegenseitigem Angebote von Maulschellen endigte. Aus eingeregneten Pensionen können nun gar Drachennester, Mördergruben der socialen Revolution, Schlachthäuser der Unschuld werden. Die vorräthigen Anekdoten sind bald erzählt, der Herr mit den Kartenkunststücken und dem Becherspiel ist rasch abgenutzt, aber der Himmel will sich noch immer nicht aufklären. Jetzt wird der alte ägyptische Reisende aufgezogen, oder der polnische Graf muß in gebrochenem Deutsch von seinen Gütern erzählen, Abends hört man andächtig dem Virtuosen auf der halbbezogenen Guitarre zu; es regnet unermüdlich weiter. Einige längst angebahnte Liebschaften sind bereits in vollem Gange, die Furien der Eifersucht erwachen, eine heirathslustige alte Jungfer schnaubt Rache, Väter, Mütter sind beleidigt, eine Tante mit zwei Nichten im Roccocogeschmack erachtet das Decorum für geschändet; wenn es am nächsten Tage noch weiter fortregnet, dürfen wir für die gänzliche Auflösung der Pension zittern. Am glücklichsten sind diejenigen Versammlungen, welche, wie jeder ordentliche Bienenstock, unter der Obhut einer Königin stehen. In den meisten Fällen pflegt dieselbe eine junge Dame von ausgezeichnetem Aeußeren, aber nicht unbedenklichen Antecedentien zu sein, die nach dem Fehlschlagen aller ihrer Hoffnungen im [512] Vaterlande nach einem reichen Freier im Auslande strebt und zu diesem Zweck sämmtliche in ihre Nähe kommenden Mannschaften sich dienstbar macht und gründlich erforscht. Andere Pensionen werden von Usurpatoren geknechtet, gewöhnlich von jungen Herren, welche etwas Tenor singen oder das Clavier schlagen und Bergbesteigungen in der Form der „gemeinen deutschen Landpartie“ veranstalten.

Eine sehr eigenthümliche Erscheinung ist die Veränderung des Charakters der einzelnen Pensionen je nach den Landschaften, in denen sie sich befinden. Wir können hier nur die beiden Extreme anführen, wollen aber die achtsamen Touristen nachdrücklich auf das Studium dieses Umstandes hingewiesen haben. Der Ton in hoch über der Meeresfläche gelegenen Pensionen ist ernsthaft und die Stimmung ihrer Angehörigen zur Schwermuth geneigt. Obgleich man glauben sollte, daß die Einförmigkeit der mit Nadelhölzern und Alpenpflanzen bewachsenen Gegend sie einander nähern und geselliger als an anderen Orten machen sollte, lieben sie vielmehr sich zu isoliren. Im Oberengadin, auf der schnurgeraden Chaussee zwischen Samaden und Pontresina, am Fuße des Mortaratsch- und Rosegg-Gletschers, am Ufer des Inn bei Cresta und Celerina, haben wir viele Prachtexemplare dieser Trauerkäfer gefunden. Es waren ursprünglich heitere Herren aus großen Städten, die, draußen und unten in der Fläche dem Genuß des Lebens nicht abgeneigt, hier oben auf Felsblöcken saßen, schweigend in die Ferne starrten, stundenlang halbvermoderte Tannzapfen in der Hand hielten und philosophisch betrachteten, doppelt so lange ihre Angelschnur in den Inn hinabhangen ließen, ohne eine Forelle zu fangen, und ihr Mittagsmahl im Zeitmaß eines Adagio’s verzehrten, ohne an ihre Nachbarn ein Wort zu richten. Die Pensionäre solcher Gegenden bewahren ihnen dennoch eine treue Anhänglichkeit und kehren jährlich wieder, um das landschaftliche Labsal, den tiefen Frieden und die heilige Stille der Berge, incl. der gänzlichen Polizeilosigkeit, abermals zum Heil der Seele zu genießen.

In den warmen, ja heißen Gegenden der französischen Schweiz, am Genfer See, herrscht dagegen durchschnittlich unter den Pensionären ein glänzender Hang zur Geselligkeit. Nicht selten leben sie, wenigstens von der Mittagsstunde an, heerdenweise, sie treiben sich, den Enten ähnlich, in ganzen Rudeln auf dem Wasserspiegel umher, sobald die Sonne sich zum Untergange neigt, und in den Gebüschen der Anhöhen am Rhonethale wetteifert ihr Gelächter häufig mit dem Lärm der Rohrsperlinge in dem Sumpfdickicht der Ufer. Der Pensionär der Westschweiz ist auf feine Speisen bedacht, zu welchem Zweck er sich nicht selten längere Zeit und mit erheblichem Kostenaufwand unter die Botmäßigkeit des liebenswürdigen Wirthes im Hotel Monnaie zu Vevay begiebt; er liebt feurige Weine und streicht bei kühlem Wetter angesäuselt zwischen den Mauern der Weinberge umher. Abends schwärmt er für Musik, kleine Feuerwerke, schwärmerische Promenaden mit jungen, schlimmsten Falles auch mittelalterigen oder von der vorigen Saison zurückgesetzten Frauenzimmern; wenn ihn der Hafer sticht, ersteigt er sogar um diese Zeit hohe Berge, bringt oben die Nacht beim Bivouacfeuer zu und erwartet den Sonnenaufgang.

Wie wäre es möglich, die Pensionen und Pensionäre in ihrer liebenswürdigsten Gestalt zu schildern? Die Zeit zu ihrem Besuche ist da! unglücklicher Unterthan, gemaßregelter Deutscher! raffe deine Baarschaft zusammen, schnüre dein Bündel, verlasse die Heimath und begieb dich selber in Pension.[1] Für fünf Franken täglich wirst du überall als anständiger freier Mensch behandelt, und die schnöde Welt der Sorgen, der Nasen und Riffel versinkt für sechs Wochen spurlos hinter dir in die Tiefe!


  1. Für die weniger gereisten Leser die Bemerkung, daß man in der Schweiz unter Pension diejenige wirthschaftliche Einrichtung versteht, wo der Gast Wohnung und Kost für bestimmten Preis auf bestimmte Zeit erhält und zwar nicht blos in Wirths-, sondern auch in Bürger- und Bauernhäusern.