Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist Du
„Schlaf’, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist Du!“
Das Jahr 1810 war für die Stadt Frankfurt ein ganz besonders ereignißreiches; sie erlebte, daß in Folge der Kontinentalsperre französische Truppen die Kaufläden mit Gewalt erbrachen, die englischen Waaren wegnahmen und auf öffentlichen Plätzen verbrannten, wofür sie die zweifelhafte Entschädigung erhielt, aus einer freien Reichsstadt die Residenz des von Napoleon’s Gnaden neu errichteten Großherzogthums Frankfurt zu werden. Im September waren es Vorgänge anderer Art, welche das lebhafte Interesse ihrer Bewohner erregten. Die Wittwe des berühmten französischen Luftschiffers Blanchard, selber eine Berühmtheit auf diesem neuen Felde der Aëronautik, hielt dort ihre erste Auffahrt in Deutschland, und zu gleicher Zeit sollte im Stadttheater eine neue Oper des jugendlichen und vielversprechenden Komponisten Karl Maria von Weber, „Silvana“, zur ersten Aufführung gelangen: zwei Schaustellungen, von denen die erste der andern nur schaden konnte.
In der Kanzlei des Stadttheaters saßen drei Herren mit sorgenvollen Mienen in ernster Berathung beisammen; es waren der durch Talent und Thatkraft vom wandernden Posamentirgesellen zum Souffleur, Kassirer, Theaterdichter und Direktor avancirte Jhlée und der ehemalige Mönch der Abtei Eberbach im Rheingau, jetzt Musikdirektor und Kapellmeister Schmitt (Vater des durch Richard Wagner’s Protektion so bekannt gewordenen Gesanglehrers gleichen Namens). Der Dritte war der jugendliche, damals etwa vierundzwanzigjährige Karl Maria von Weber, der am Morgen von Darmstadt, wo er zur Zeit sein Domicil aufgeschlagen hatte, herüber gekommen war, um der heute, am 13. September, stattfindenden Generalprobe seiner Oper „Silvana“ beizuwohnen.
„Ein ganz fatales Zusammentreffen und leider nicht zu ändern,“ sagte Direktor Jhlée, „daß die dicke Madame Blanchard gerade jetzt kommen mußte, um für den nächsten Sonntag, den 16., ihre Fahrt in die Lüfte anzukündigen. Ich wollte lieber – es ist zwar ein unchristlicher Wunsch – sie führe zur Hölle! Sie wird ihre erste Auffahrt nicht verschieben wollen, und wir können unsere erste Aufführung der ‚Silvana‘ auch nicht weiter zurückverlegen; es ist unmöglich! Was wäre da zu thun?“
„Wenn wir die Blanchard nur bewegen könnten, ihre Luftfahrt einige Stunden früher anzutreten,“ meinte Musikdirektor Schmitt. „Bleibt es bei der angekündigten Nachmittagsstunde, dann dauert die Geschichte sicher bis zum Abend und wir haben keine Seele im Theater – die Oper ist verloren! Auf alle Fälle müßten wir um sieben Uhr, anstatt um sechs Uhr anfangen, und da die Vorstellung nicht länger als bis neun Uhr dauern darf, hätten wir eine ganze Stunde Musik aus der Partitur zu streichen – in erster Linie müßten alle Arien weggelassen werden.“
„Das wäre entsetzlich!“ seufzte Weber, um dann plötzlich mit einem entschlossenen hoffnungsvolleren Tone hinzuzusetzen: „Ich will zu ihr, mit ihr reden, sie bitten, beschwören, gleich nach Tisch mit vollem Magen gen Himmel zu fahren! Ich mache der stattlichen Wittwe meinetwegen die Kour auf Mord und Tod, nur um meine armen Arien-Kindlein und ihre Mutter ,Silvana‘ vom sicheren Untergang zu retten. Doch darf ich keinen Augenblick verlieren! Jetzt ist es drei Uhr; um fünf Uhr zur Generalprobe bin ich wieder zurück: Apollo Musagetes wird den Aeolus und seine französische Priesterin, wenn auch nicht vollständig besiegen, so doch seinem Dienste gefügiger machen.“
Damit verließ er eiligst, ohne eine Bemerkung der beiden Direktoren abzuwarten, die Kanzlei.
„Will es Ihnen und uns Allen wünschen!“ rief Musikdirektor Schmitt ihm nach, für sich hinzusetzend: „Und ich will einstweilen die Striche vorbereiten, die arme ,Silvana‘ zu Ehren der dicken Französin seciren.“
Als Weber am Fuße der Treppe bei der Portiersloge angekommen war, stellte sich dem Dahinstürmenden der ebenso redegewandte wie flinke Theaterdiener mit einem Brief in den Weg und rief ihm zu: „Herr von Weber – Herr von Weber! Ein Brief aus Darmstadt, der von Stuttgart kommt, wie deutlich auf der Adresse zu lesen ist, wie auch, daß der Herr Hiemer ihn geschrieben hat.“
Weiter kam er mit seinen Enthüllungen nicht, denn Weber riß ihm den Brief aus der Hand und setzte eilfertig seinen Weg fort. In der Biebergasse entfaltete er das Schreiben seines Textdichters und „Mitvaters“ uud zog ein darin liegendes Gedichtchen hervor. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, als er recht ärgerlich murmelte: „Ein Wiegenlied, das ich dem Hiemer in Musik setzen soll, und noch dazu so bald als möglich! Mein Reim-Tyrann glaubt, ich hätte hier nichts Anderes zu thun, als Eiapopeia zu singen. Hol’ ihn der Teufel!“ Und weiter eilte er jetzt die Zeil entlang.
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Madame Blanchard war mit einem sonderbaren Gefährt in Frankfurt eingezogen. Der vordere Theil sah wie ein Kabriolet aus, in dem sie mit ihrem Kinde, einem etwa dreijährigen Knäblein, saß; der hintere glich einem Frachtwagen und barg ihren kostbaren Ballon mit zwei Leuten, die dessen Bedienung verstanden. Blanchard, der berühmte Luftschiffer, Erfinder des Fallschirmes, viel älter als seine Gattin, war vor etwa einem Jahre (1809) gestorben, und seine Wittwe, damals 32 Jahre alt, setzte, trotz ihrer Korpulenz, das Geschäft oder die „Kunst“ der Auffahrt in die Lüfte mit noch größerer Kühnheit, richtiger Verwegenheit, fort. In einem der weitläufigen Gasthäuser war sie eingekehrt, und dort suchte Weber sie auf. Er fand indessen nur eine alte Frau, welche die Französin in Frankfurt angenommen hatte, um ihr Kind zu pflegen und während ihrer Abwesenheit zu beaufsichtigen.
„Die Madame ist draußen auf dem Klapperfelde, um den Platz zu wählen, von wo aus sie – unser Herrgott steh’ ihr bei! – in den Himmel fahren will,“ antwortete die Frau auf Weber’s Frage nach der Wittwe Blanchard. „Wenn der Herr einige Augenblicke warten und auf das Kind Acht geben will, so laufe ich hin, um ihr Nachricht zu bringen und sie zu holen.“
Weber stimmte zu, und die Alte, gewiß froh, sich die Vorbereitungen für die Wunderfahrt in der Nähe anschauen zu können, eilte äußerst dienstfertig davon. Weber war mit dem Kleinen allein.
Es war ein allerliebstes Kind mit schönen dunklen Augen und lockigen blonden Haaren, dabei aufgeputzt, als sollte es einen Bestandtheil der bevorstehenden Schaustellung bilden. Weber, der die Kleinen sehr gern hatte und sich sofort von dem zuthunlichen Wesen des Kindes angenehm berührt fühlte, zog es zu sich heran, streichelte ihm die Wangen und Locken, und plaudernd brachte er es bald zu dem herzlichsten Lachen.
Doch die Zeit verging; die Alte kehrte nicht zurück, und die gute Laune Weber’s wandelte sich nach und nach in Ungeduld, die sich zu hellem Unmuth steigerte. Er fluchte zuletzt ganz gotteslästerlich, so daß das Lachen des Kindes endlich in ein herzbrechendes Weinen umschlug. „Herr Gott!“ sagte sich der Komponist, „wenn die Französin sich alle für ihre Thaten geeigneten Schauplätze ansieht, vom Klapperfeld zum Galgenfeld wandert und meine Alte immer hinter ihr drein läuft, so kann ich hier bis zum Abend bleiben und die ganze Generalprobe versäumen. Eine volle Stunde sitze ich schon auf Nadeln und spiele die Kindsfrau. Es ist zum Teufelholen!“
Doch alles Aergern und Fluchen half nichts: Niemand wollte kommen, und der arme Kleine weinte und jammerte immer bitterlicher nach seiner Mama. „Könnte ich ihn einstweilen nur zum Schlafen bringen,“ fuhr Weber in seinem Selbstgespräch, die Stube mit großen Schritten durchmessend, fort, „dann hätte ich wenigstens von dieser Seite Ruhe.“
Jetzt nahm Weber das weinende Kind auf seinen Arm, wiegte es hin und her, ließ es leicht tänzeln, setzte mit ihm seine ungeduldige Promenade durch die Stube fort und flüsterte dabei in der dem Kleinen verständlichen Sprache: „Dors, mon poupon, mon petit ange, dors! la maman viendra – la voilà là – là! – Ah, ein Gedanke!“ rief er plötzlich mit einem Aufschrei der Erlösung, denn sein Auge hatte ein altes unscheinbares Möbel mit dünnen Beinchen gestreift, das abseits in einer Ecke stand und nichts Anderes sein konnte, als ein längst aus der Mode und außer Gebrauch gekommenes Spinett. „Ich habe ja das Zaubermittel in der Tasche, das den kleinen armen Schreihals in Schlaf lullen kann. Hervor, du neuestes unsterbliches Opus meines Stuttgarter Textlieferanten, und thue deine Schuldigkeit!“
Dabei bettete er den immerfort jämmerlich weinenden Kleinen in die Ecke des Sofas, setzte sich vor das alte Spinett und begann, die Verse Hiemer’s vor sich, nach einigem kaum hörbaren Suchen und Präludiren, leise – ganz leise zu singen:
„Schlaf’, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du!
Schließe die blauen Guckäuglein zu!
Alles ist ruhig, ist still wie im Grab,
Schlaf’ nur, ich wehre die Fliegen dir ab.“
Ein Wunder! Gleich nach den ersten Tönen des altersschwachen Spinetts, der von Weber angestimmten lieblichen Melodie, hatte der Kleine zu weinen aufgehört. Doch machte er keine Miene einzuschlafen; er blickte sogar mit seinen großen dunklen Augen anfangs recht erstaunt, dann sichtlich freudig auf den ihm gerade gegenübersitzenden Weber. Dieser seufzte ordentlich erleichtert auf; dann murmelte er: „Eine zweite Beschwörung wird den Zauber vollenden!“ und wohl selber über die gefundene hübsche Melodie erfreut, sang er mit allem ihm zu Gebote stehenden Ausdruck die folgende Strophe:
„Jetzt noch, mein Püppchen, ist goldene Zeit;
Später, ach, später ist’s nimmer wie heut.
Stellen erst Sorgen ums Lager sich her,
Herzchen, da schläft sich’s so ruhig nicht mehr.“
[883] Nun schaute er wieder nach dem Kinde hin, dessen Aeuglein jetzt geschlossen waren, obwohl es noch immer nicht schlief. Denn gar zu lebendig lächelte das hübsche liebe Gesichtchen. Leise fuhr Weber fort:
„Engel vom Himmel, so lieblich wie du,
Schweben ums Bettchen und lächeln dir zu.
Später zwar steigen sie auch noch herab,
Aber sie trocknen nur Thränen dir ab!“ –
„Er schläft,“ murmelte er, sich nach den Augen fahrend, denn bei der letzten Verszeile war es ihm ganz sonderbar zu Muthe geworden. Er hatte im Geiste die eigene, ahnungsvoll ersehnte Gattin an der Wiege seines Kindchens gesehen, das sie mit dem Liede in Schlummer sang und wiegte! Und er sang leise die Schlußstrophe:
„Schlaf’, Herzenssöhnchen, und kommt gleich die Nacht,
Sitzt deine Mutter am Bettchen und wacht,
Sei es so spät auch und sei es so früh,
Mutterlieb’, Herzchen, entschlummert doch nie.“
„Doch nun rasch die Melodie festgehalten,“ rief der Tondichter in ihm, und in wenigen Augenblicken war die glückliche und gar liebliche Melodie notirt. Unter die flüchtigen Noten schrieb Weber noch hastig:
Frankfurt am Main.“
Da schlug es fünf Uhr, und zugleich stapfte die Wärterin die Treppe herauf und athemlos ins Zimmer hinein: sie habe die Madame weder auf dem Klapper- noch auf dem Galgenfelde gefunden, keuchte sie, sich entschuldigend. Doch Weber hörte sie bereits nicht mehr, er war mit einem Abschiedsblick auf den hübschen Kleinen davongelaufen und eilte dem Theater und der Generalprobe zu.
„Und müssen auch für Sonntag meine Silvana-Arien fallen,“ sagte er sich, „so habe ich dadurch doch ein Lied für das Volk – und die Meinigen – gewonnen, das vielleicht mehr werth ist als die prunk- und kunstvollste Opern-Arie.“
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Am folgenden Sonntag, den 16. September, stieg Nachmittags drei Uhr, wie angekündigt, Madame Blanchard mit ihrem Ballon in die Lüfte, und „ganz Frankfurt“ wohnte dem seltenen, damals unerhörten Schauspiel bei; um sieben Uhr Abends fand die erste Aufführung von Karl Maria von Weber’s Oper „Silvana“ vor leerem Hause statt und, wie Musikdirektor Schmitt angedroht hatte, mit Hinweglassung sämmtlicher Arien! Dennoch gefiel Weber’s Werk und machte von Frankfurt aus die Runde über die meisten deutschen Bühnen – um dann der Vergessenheit zu verfallen und nach 75 Jahren in erneuerter Form wieder aufzuleben.
Madame Blanchard wagte mit ihrem Ballon noch manchen kühnen Flug in die Lüfte, bis sie endlich denn doch allzuviel und das Allergefährlichste wagte. Am 17. Juli 1819 machte sie in Paris ihre 67. Auffahrt und brannte hoch oben in der Luft ein Feuerwerk ab. Das kostete ihr das Leben. Ihr Ballon verbrannte, und sie selbst stürzte aus furchtbarer Höhe auf die Dächer von Paris, dann zerschmettert auf das Straßenpflaster nieder. – Auf dem Père-Lachaise erhebt sich, mitten unter den letzten Ruhestätten der berühmtesten Komponisten Frankreichs, ihr prunkvolles Grabmal: eine Säule, gekrönt mit einem die Erdkugel darstellenden Ballon, aus dem eine Flamme emporsteigt, die Art und Weise ihres entsetzlichen Todes andeutend.
Und Karl Maria von Weber’s Wiegenlied? Es ist eines der volksthümlichsten Lieder unseres herrlichen Meisters geworden und geblieben! Die geträumte Gattin, welche er, wie er damals noch nicht ahnte, in der Frankfurter Darstellerin seiner „Silvana“ finden sollte, sang es den eigenen Kindern vor. Und welche deutsche Mutter hat es in früheren Jahren nicht ihren Kleinen an der Wiege gesungen? – Noch nach fast sechzig Jahren erinnere ich mich lebhaft des Eindrucks, den das sinnige, liebliche Lied auf mich machte, wenn meine theuere, unvergeßliche Mutter es den jüngeren Geschwistern an deren Bettchen sang, und später sang es meinen eigenen Kindern die Mutter. Es wird mit den andern Liedern und Weisen unseres unsterblichen Meisters in seiner Einfachheit fortleben und tönen – mindestens so lange wie die Weisen derjenigen Werke, welche die Jetztzeit als unübertreffliche preist!
- ↑ Vor hundert Jahren, am 18. December 1786, erblickte Karl Maria von Weber in Eutin das Licht der Welt. An allen Bühnen Deutschlands wird dieser Gedenktag feierlich begangen werden. Möge diese kleine, so warm zum Herzen sprechende Skizze als Erinnerung an den großen Meister im deutschen Hause Eingang finden! D. Red.