Sankt Walderichs Capelle zu Murrhardt

Textdaten
Autor: Justinus Kerner
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Titel: Sankt Walderichs Capelle zu Murrhardt
Untertitel:
aus: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern.
S. 157–159
Herausgeber:
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Erscheinungsdatum: 1813
Verlag: J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Tübingen
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Quelle: Google und Scans auf Commons
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[157]

Sankt Walderichs Capelle zu Murrhardt.

In alter Burg auf wolk’ger Höh
Der fromme Kaiser Ludwig saß,
Er trug im Herzen manches Weh,
Vom Schmerz er nimmermehr genas.

5
Wohl sang durch Waldes Einsamkeit

Mit süßem Ton die Nachtigall,
Doch nicht verscheucht des Kaisers Leid
In stiller Nacht der liebe Schall.

Wohl sah des Mondes milder Schein

10
Durch manchen dichtbelaubten Baum,

Der Kaiser schlief in Thränen ein,
Doch träumt’ er wundersamen Traum.

Bei einem Kreutz im grünen Thal,
Da sah er einen Greisen knien,

15
Das Haupt bekrönt mit heil’gem Stral,

Zu seinen Füßen Lilien blühn.

„Vom Himmel eine Stimme ruft:
Folg’ ihm, er wird dein Helfer seyn!“
Da ward so glänzend blau die Luft,

20
Aufblüht’ das Thal in Duft und Schein.


Es schwand der Traum, sein Auge war
Noch thränenschwer am lichten Tag:
Das Kind der Nacht, der Thau, so klar
Auf himmelblauer Blume lag.

[158]

25
Es schwang auf’s treue Roß sobald

Der Kaiser sich und ritt zu Thal,
Die Vögel sangen hell im Wald,
Grüßend die Sonn’ und ihn zumal.

Er ritt hinab vom Wolkenstein,

30
Also ward seine Burg genannt,

Es lag das Thal im lichtem Schein,
Es stand so segenreich das Land.

Jetzt sah er fern drei Lilien blühn,
Sie warfen milden Schein in’s Thal!

35
Er sah bei’m Kreutz den Heil’gen knien,

Sein Haupt bekrönt mit Himmelsstral.

Da sprang er von dem treuen Roß,
Eilt’ fröhlich auf den Greisen zu,
Goß allen Schmerz in seinen Schooß,

40
Und schon erfühlt’ er alte Ruh’.


„Trag ab den Wolkenstein zur Stund’ –
Also der heil’ge Waldrich sprach –
Stell’ eine Kirch’ in Thales Grund,
Und denk’ an des Erlösers Schmach!“

45
Drauf schwand dahin der heil’ge Greis,

Ihn fand nicht mehr des Kaisers Blick,
Doch blieben die drei Lilien weiß,
Doch blieb das Kreutz im Thal zurück.

Der fromme Ludwig ließ sobald

50
Abtragen seinen Wolkenstein,

Er setzt’ ihn aus dem düstern Wald
Zu Thal in Mond- und Sonnenschein.

[159]

Zur Kirche ward er umgebaut.
Beim Kreutze kniet von dieser Zeit

55
Duldsam der Kaiser, bald vertraut

Mit des Erlösers höher’m Leid.

 Kerner.