Reichsgericht – Sozialistengesetz – Einsammlung von Beiträgen

Textdaten
Autor: Reichsgericht
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Titel: Mittheilung eines Erkenntnisses des Reichsgerichtes
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aus: Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern, Königreich Bayern, Band 1880, Nr. 32, Seite 381–384
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Kurzbeschreibung: Ungerechtfertigtes Verbot des Einsammelns von Beiträgen
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Mittheilung eines Erkenntnisses des Reichsgerichtes.

Das Reichsgericht hat unterm 14. Juli 1880 in einer Strafsache wegen Uebertretung der §§ 16, 20 des Reichsgesetzes vom 21. Oktober 1878 gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Socialdemokratie auf Freisprechung erkannt, weil das Einsammeln von Beiträgen von der Polizeibehörde auf Grund des § 16 l. c. nicht bestimmten Klassen von Personen allgemein verboten werden kann, vielmehr das Verbot gegen bestimmte Sammlungen gerichtet sein muß, von deren socialistischer Bestimmung die Polizei sich überzeugt hält.

Gründe:

Die Revision des Mitangeklagten F. behauptet Verletzung des StrGB. durch das angefochtene Urtheil, und zwar des § 16 des Socialistengesetzes vom 21. Oktober 1878, bzw. der auf Grundlage dieses § 16 erlassenen Bekanntmachung des Polizeiamts in Altona vom 15. September 1879. Die Verletzung wird darin gefunden, daß § 16 das. der Polizeibehörde nicht die Befugniß habe geben wollen, alles Einsammeln von Beiträgen zur Förderung der im Socialistengesetz gekennzeichneten Umsturzbestrebungen ganz allgemein und von vorn herein zu verbieten, sondern dieselbe nur verpflichtet habe, wo ihr Sammlungen der dem Zwecke des Gesetzes feindlichen Art begegnen, dieselben zu unterdrücken; ferner darin, daß der § 16 die Polizeibehörde nicht zur Aufstellung von Rechtsvermuthungen ermächtigte, welche hier erfolgt sei.

Die Bekanntmachung vom 15. September 1879, so weit sie hierher gehört, verbietet denjenigen Personen, welche sich die Agitation für die in § 1 Abs. 2 des Socialistengesetzes bezeichneten Bestrebungen zum Geschäft machen, das Einsammeln und die Entgegennahme von Beiträgen, wenn nicht die Beiträge nachweisbar [382] zu andern als den im § 16 des Gesetzes bezeichneten Zwecken bestimmt seien, und bemerkt, daß Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot mit Geldstrafe bis zu 500 oder mit Gefängniß bis zu 3 Monaten bestraft würden.

Die vorigen Richter stellen fest, daß die Voraussetzungen der Bekanntmachung auf den Beschwerdeführer zutreffen, indem derselbe als eine Person, welche sich die Agitation für die verbotenen Bestrebungen der Socialisten zum Geschäft machte, im Winter 1880 dem öffentlich bekannt gemachten Polizeiverbot des Einsammelns von Beiträgen zur Förderung derartiger Bestrebungen zuwider gehandelt habe und der Nachweis nicht erbracht sei, daß die von ihm gesammelten Gelder für andere Bestrebungen bestimmt gewesen. Diese Feststellung enthält noch mehr als die Voraussetzungen der Bekanntmachung, in so fern die letztere denjenigen Personen, welche sich die erwähnte Agitation zum Geschäft machen, nicht bloß die Einsammlung und Annahme von Beiträgen für socialistische Zwecke, sondern allgemein für alle Zwecke verbietet, wenn nicht die Beiträge nachweisbar zu andern als den in § 16 des Gesetzes bezeichneten Bestrebungen bestimmt sind. Die vorigen Richter finden aber in der von ihnen festgestellten Handschrift des Beschwerdeführers nicht allein denjenigen Thatbestand, welchen die Bekanntmachung unter die in § 20 des Gesetzes gedrohte Strafe stellt, sondern auch den Thatbestand der im Gesetz selbst §§ 16, 20 und 22 mit Strafe bedrohten Handlungsweise.

Das Vergehen des § 20 das. ist ein rein formales; es besteht lediglich in dem Zuwiderhandeln gegen ein nach § 16 erlassenes Polizeiverbot; ob der Zuwiderhandelnde dabei seinerseits socialistische Zwecke verfolgt, kommt nicht in Betracht und braucht ihm nicht nachgewiesen zu werden, nachdem einmal in Beziehung auf die Sammlung das polizeiliche Verbot erlassen ist. Es muß aber dieses Verbot, wie es im Gesetz heißt, „nach § 16“ erlassen sein. Demnach muß es sich um eine Sammlung handeln, durch welche die in § 16 beschriebenen Bestrebungen gefördert werden sollen, und die Polizeibehörde muß eine in solcher Weise individuell charakterisirte Sammlung verboten haben. Ob eine beabsichtigte, in Aussicht stehende, oder angefangene Sammlung Zwecke solcher Art zu fördern bestimmt sei, hat die Polizeibehörde zu ermitteln und zu entscheiden, und Beschwerden gegen ihre Entscheidungen können nur an die polizeilichen Aufsichtsbehörden gerichtet werden; den Gerichten steht in dieser Hinsicht keine materielle Prüfung zu. Wohl aber haben, wenn aus dem § 20 Anklage erhoben ist, die Gerichte zu prüfen, ob dasjenige Verbot, gegen welches verstoßen sein soll, existire und ob es dem § 16 entspreche. Ist die dem Angeklagten zur Last gelegte Sammlung durch ein derartiges Verbot nicht betroffen, so mag sie immerhin socialistische Bestrebungen [383] fördern wollen, dadurch allein fällt sie nicht unter die Strafdrohung des § 20. Denn das Einsammeln von Beitrügen für solche Bestrebungen ist nicht unmittelbar kraft Gesetzes verboten und mit Strafe bedroht, sondern es steht damit, wie mit der Theilnahme an socialistischen Vereinen oder Versammlungen und mit der Verbreitung socialistischer Druckschriften, welche gleichfalls erst dann strafbar werden, wenn der Verein, die Druckschrift, die Versammlung zuvor verboten, bzw. aufgelöst worden war (§§ 1, 6, 9, 11, 17, 18, 19, 21 des cit. Gesetzes).

Nun hat das Verbot des Polizeiamts zu A. v. 15. Septbr. 1879 eine bestimmte Sammlung socialistischen Charakters und insbesondere die vom Beschwerdeführer angestellte Sammlung überall in Beziehung auf die socialistischen Zwecke derselben weder untersucht noch verboten, sondern es hat Personen gewisser Art das Sammeln von Beiträgen zu Zwecken aller möglichen Art verboten. Dieses Verbot steht also nicht auf der Grundlage des § 16, folglich unterliegt, wer demselben zuwiderhandelt, nicht der Strafdrohung des § 20. Hieran wird durch die dem Verbot hinzugefügte Beschränkung auf solche Beiträge, die nicht nachweisbar zu andern Zwecken, als den in § 16 bezeichneten, bestimmt seien, nichts geändert. Um eine Sammlung zu verbieten, muß die Polizeibehörde ihrerseits finden, daß sie den in § 16 bezeichneten Zwecken dienen solle, und hat dann diese individuelle Sammlung als solche zu verbieten; sie hat nach § 16 nicht ausnahmsweise zu erlauben, was als ungefährlich im Sinne des Socialistengesetzes dargethan wurden sei, sondern sie hat dasjenige zu verbieten, von dessen Gefährlichkeit in diesem Sinne sie sich überzeugt hat, damit durch Mißachtung ihres Erlasses derjenige in § 20 mit Strafe bedrohte Thatbestand möglich werde, dessen die Gerichte bedürfen, um die Strafe aussprechen zu können. Das Verbot vom 15. Septbr. 1879 schafft einen andern als den gesetzlichen Thatbestand, indem darnach nicht eine Sammlung zu bestrafen sein würde, weil sie als socialistischen Zwecken dienend verboten worden sei, sondern weil sie von Personen gewisser Art angestellt worden sei. Nach den §§ 16 und 20 gehört es aber nicht zur Aufgabe der Gerichte, den socialistischen Charakter des Sammlers zu untersuchen und festzustellen, und eben so wenig ist es nach diesen Paragraphen die Aufgabe der Gerichte, über den Zweck einer concreten Sammlung von Beiträgen Ermittelungen anzustellen.

Das angefochtene Urtheil läßt sich auch nicht mittelst der Erwägung aufrecht halten, daß hier doch jedenfalls einerseits die Thatsache des Verbots der Sammlung, andrerseits der socialistische Charakter derselben feststehe. Denn der Thatbestand des § 20 fordert ein dem § 16 gemäß ergangenes Verbot, nicht ein Verbot überhaupt, und der socialistische Charakter der Sammlung des Beschwerdeführers [384] steht nicht fest, weil über denselben nur die Polizeibehörde zu urtheilen berufen war und ein solches Urtheil, welches nur in der Form eines Verbots gerade dieser Sammlung mit der Wirkung der Strafbarkeit erfolgen konnte, seitens der Polizeibehörde nicht vorliegt. Anzuerkennen ist zwar, daß, wie das Gesetz gefaßt ist, die praktische Wirksamkeit der durch den § 16 zugelassenen Verbote häufig sehr zweifelhaft sein wird, da, bevor die Polizeibehörde auf eine bestimmte beabsichtigte oder begonnene Sammlung aufmerksam geworden ist und dieselbe verboten hat, die Sammlung bereits beendigt sein kann. Allein dieses praktische Bedenken ist gegenüber dem zweifellosen Inhalt der §§ 16 und 20 für die Frage nach dem Thatbestande des Vergehens ohne Bedeutung, auch bei den Berathungen des Gesetzes nicht unerwogen geblieben, ohne daß es zu einer anderen Fassung des letzteren geführt hätte.

Dem Obigen gemäß war das angefochtene Urtheil aufzuheben und, da es weiterer thatsächlicher Erörterungen nicht bedarf, dem § 394 der Str.-Pr.-O. gemäß auf Freisprechung zu erkennen.