Prozeßwütige bulgarische Bauern

Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Prozeßwütige bulgarische Bauern
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 222–224
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[222] Prozeßwütige bulgarische Bauern. – Zu den besonderen Charaktereigentümlichkeiten der bulgarischen Bauern gehört eine durch nichts einzudämmende Prozeßwut. Zurückzuführen ist diese hauptsächlich auf die Eitelkeit der reichlich beschränkten Landbevölkerung, unter der man höchst selten einen des Lesens und Schreibens Kundigen antrifft.

Der bulgarische Schriftsteller Ludowawitsch schildert in seinem Buche „Mein Vaterland und meine Landsleute“ einige tragikomische Prozeßgeschichten, die auch auf die sonstigen Charaktereigenschaften des Bulgarenvolkes recht interessante Streiflichter werfen. „Einem Rechtshandel aus dem Wege zu gehen, gilt bei der ländlichen Bevölkerung geradezu als schimpflich. In der Dorfkneipe werden die Prozesse regelmäßig des langen und breiten durchgesprochen. Derjenige, der die meisten führt, bildet den Mittelpunkt der allgemeinen Unterhaltung und ist stolz darauf. Jung und alt staunt ihn an. Und daher wird vielfach aus reiner Eitelkeit um der nichtigsten Dinge [223] willen die Entscheidung der Behörden angerufen. In jeder kleinen Stadt, mag sie auch nur knappe zweitausend Einwohner zählen, gibt es mindestens ein Dutzend sogenannter Advokaten, die, ohne als Prozeßvertreter bei Gericht zugelassen zu sein, sich lediglich von der Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit dieser einfachen Leute nähren.

Ein reicher Bauer erscheint bei seinem langjährigen Rechtsbeistand und will gegen seine Dorfgemeinde klagen, weil diese ohne seine Erlaubnis einen öffentlichen Weg über seinen Acker geführt hat. Der ‚Advokat‘ weiß sehr gut, daß die Sache vor das Gericht der nächsten größeren Stadt gehört, und daß er hierbei überhaupt nichts ausrichten kann. Trotzdem schlägt er seinem Klienten vor, zunächst eine Eingabe bei Gericht zu machen. Vielleicht würde das schon helfen. Der Prozeßhansel ist einverstanden. Nun kommt die wichtigste Frage. Der Herr Advokat besitzt nämlich drei verschiedene Sorten von Schreibfedern: eine stählerne, eine silberne und eine goldene. Die Benützung der letzteren zur Anfertigung der Eingabe kostet fünf Lev (Frank), dann ist der Erfolg aber auch ganz sicher. Die beiden ersteren sind billiger. Natürlich wird die goldene Feder ausgesucht. Ehrfürchtig schaut der Bauer zu, wie das Schriftstück entsteht. Dann liest der Herr ‚Advokat‘ das Machwerk vor. Es ist derart unverständlich abgefaßt und enthält so viele grobe Beleidigungen der Dorfgemeinde, daß der Bauer seiner höchsten Zufriedenheit Ausdruck gibt. Jetzt wird die notwendige Stempelmarke möglichst lose auf den Bogen geklebt. Sie kostet weitere acht Lev. Und nun schiebt der Herr Rechtsbeistand die Eingabe in einen Umschlag, versiegelt diesen, versieht ihn mit einer Briefmarke, schreibt seinen eigenen Namen und seine Adresse darauf und läßt den fertigen Brief von dem Bauern selbst in den nächsten Postkasten werfen, damit der Mann auch sicher ist, daß die Eingabe richtig abgeht. Der Bauer, der nicht lesen kann, tut wie ihm geheißen, und kehrt vergnügt heim. Hat ihm doch der ‚Advokat‘ versprochen, die entscheidende Antwort würde spätestens in zwei Wochen eintreffen. Daß die famose Eingabe sich schon am nächsten Tage wieder in Händen seines gewissenlosen Ratgebers befindet, [224] daß dieser die Stempelmarke von dem Bogen ablöst und so die acht Lev für sich ‚gespart‘ hat, ahnt der Ärmste nicht.

Drei Wochen vergehen. Der Bauer wird ungeduldig und begibt sich bei Gelegenheit zu seinem Rechtsbeistand. Er habe noch immer keinen Bescheid erhalten. Dann sei die Antwort verloren gegangen. Man müsse noch einmal und noch ausführlicher schreiben.

Wieder zahlt der Bauer seine dreizehn Lev wie das erste Mal. Dasselbe Spiel wiederholt sich. Die Stempelmarke wird wieder ‚gespart‘.

Nach weiteren zwei Wochen erscheint der Herr Rechtsbeistand, der den weiten Weg nicht gescheut hat, bei dem Bauern und teilt ihm mit, daß das Gericht den Vorschlag mache, die Parteien sollten sich im guten einigen, zeigt ihm auch irgend ein amtliches Schreiben vor, so daß der Geprellte abermals auf den Leim geht. Der Redegewandtheit des ‚Advokaten‘ gelingt es denn auch nach einiger Zeit, einen Vergleich herbeizuführen, wofür weitere dreißig Lev in Rechnung gesetzt werden. So kostet dem Bauern die Geschichte sechsundfünfzig Lev, die er eigentlich für nichts ausgegeben hat. Denn wäre er verständig gewesen, und hätte er sich sofort an den Gemeindevorstand mit einem Vergleichsvorschlag gewandt, so würde die Sache genau so ausgelaufen sein. Aber dieser einfachste Weg hätte sich nie und nimmer mit der Ehre eines bulgarischen Bauern vertragen.

Zwei Nachbarn, bis dahin die besten Freunde, prozessieren um ein Stück Land. Endlich gewinnt Lokitsch endgültig. Sein Gegner ist inzwischen infolge von Mißernten und Viehseuchen völlig verarmt. Was tut jetzt Lokitsch? Er schenkt dem früheren Freunde das Streitobjekt und leiht ihm außerdem noch eine größere Summe, damit jener sich wieder emporarbeiten kann. Er hat ja den Prozeß gewonnen. Nur daran liegt ihm etwas, an dem Acker gar nichts. Die Nachbarn werden wieder gute Freunde, und die Advokaten haben ihre zweitausend Lev bei dem Rechtsstreit verdient.“

W. K.