Professor Dr. Anton Birlinger
Mit dem Begründer und bisherigen Herausgeber der Alemannia ist einer der hervorragendsten Förderer der schwäbisch-alemannischen Volkskunde, wohl der gründlichste Kenner seiner anererbten Mundart aus dem Leben geschieden. Ein Lieblingsschüler Altmeister Uhlands, ward er getragen von der Liebe und Anerkennung der berufensten Lehrer seiner Wissenschaft an der einheimischen Hochschule, der Professoren A. v. Keller und W. L. Holland, – aber nach erfolgreichem Auftreten auch freudig begrüsst vom gebildeten Mittelstand seiner engeren Heimat.
Die freundliche Sonne, welche seine ernste Forschungstätigkeit beschien und segnete, teilt er, wie wir [Ξ] wissen, so recht brüderlich mit dem schicksalsverwandten Mitarbeiter an dem heiligen Werk der „stammheitlichen“ Rettung, Dr. Adolf Bacmeister (1827–73). Seit ihrem fast gleichzeitigen ersten Haupterfolg (Bacmeisters „Alem. Wanderungen“ 1867 und Birlingers „Alemann. Sprache rechts des Rheins“ 1868) sind wir in Württemberg gewöhnt, sie gleichsam in einem Atemzug zu nennen, wenn auch jeder sein Feld wieder anders bebaute. Bacmeister war zugleich Dichter und Schriftsteller, „ein originell kräftiger Geist, der den Leser in die vergleichende Sprachwissenschaft und in die Kunde unserer Vorzeit in so anmutiger Weise einführt, dass derselbe sich zu dem bedeutenden Mann gewiss auch persönlich hingezogen fühlt“ (R. v. Schmid). Birlinger ist und bleibt der Fachmann, dem der Einblick in das Wesen und die Entwicklung des Volkstums nächster und höchster Zweck war, ohne auf seinen Stil diejenige Sorgfalt verwenden zu wollen, die ihm über Kenner- und Gönnerkreise hinaus eine freundliche Teilnahme gesichert hätte.
Einer merkwürdigen Ähnlichkeit in ihrem Lebensgang müssen wir indessen noch Erwähnung tun, ehe wir unsere Aufmerksamkeit ausschließlich dem zuletzt vor uns geschiedenen Germanisten zuwenden. Beide schienen zum Priesterdienst ihrer Kirchen bestimmt; aber unerwartete Zeitereignisse, die Launen des fast allmächtigen „Augenblicks“, rissen sie aus ihrer stillen Bahn heraus, um beide der weltlichen Wissenschaft zuzuführen: der evangelische „Stiftler“ ward 1848 zum Politiker und bewegte sich später auf dem protestantenvereinlichen Boden seines speziellen Freundes Heinrich Lang († 1876 in Zürich); der geweihte katholische Priester ward 1870 von der „altkatholischen“ Bewegung erfasst und schloss sich bald der Gemeinde des preußischen Bischofs Reinkens an. Doch hat ja die Geschichte der Wissenschaft nur mit der „Person“ und ihrer fachmännischen Arbeitsleistung zu schaffen. Fassen wir also in Kürze zusammen, was geeignet erscheinen dürfte, das Bild der im Dienst seiner Wissenschaft allzeit opferbereiten Erscheinung Prof. Birlingers in uns lebendig zu erhalten.
Anton Birlinger ward geboren in dem freundlichen Gäudörflein Wurmlingen (O. A. Rottenburg) am Westfuße des Hügels, der die von Uhland besungene „Wurmlinger Kapelle“ trägt. Sein Vater Balthasar B. (geb. 22. Nov. 1804) hatte das heute noch bestehende Gasthaus zum Löwen in Besitz und Betrieb, starb aber leider in seinen besten Jahren (24. April 1839), als Anton kaum sein fünftes Lebensjahr übersehritten hatte. Die Witwe, Elisabeth [Ξ] geborene Euper (geb. 16. Nov. 1804), soll eine tatkräftige Frau gewesen sein; gleichwol suchte sie zu der Erziehung ihrer 2 Kinder (Anton hatte noch ein Brüderchen, Bruno, geb. 1836) eine Unterstützung, die sie in ihrem zweiten Ehemann, dem dortigen Bäcker Zacharias Gross zu finden hoffte. Aus dieser Verbindung stammt Antons Halbschwester Margaretha (geb. 1842), die ihrem älteren Bruder (der jüngere wanderte bald nach Amerika aus, wo er schon längst gestorben ist) lange Jahre ratend und helfend zur Seite stand, bis sie sich im April 1876 entschloss, in das Trapistinnenkloster zu Ölenberg im Oberelsass einzutreten. Die Mutter lebte in Wurmlingen längere Zeit in dürftigen Verhältnissen und starb vereinsamt am 15. Dezemb. 1876 zu Seitringen bei Tuttlingen.
Die Studienlaufbahn A. Birlingers war, nachdem ihn einmal die Mutter für den geistlichen Stand bestimmt, die gewöhnliche im katholischen Württemberg. Er besuchte die Lateinschule in Rottenburg, den Konvikt in Rottweil und das Wilhelms-Stift der Landes-Universität (1854–58). Am 10. August 1859 erhielt er (gleichzeitig mit dem jetzigen Weihbischof v. Reiser und dem Domkapitular Prof. v. Linsenmann und andern hervorragenden Persönlichkeiten im katholischen Kirchendienst Württembergs) die Priesterweihe, um in der Domkirche zu Rottenburg zu primizieren. Als ländlicher Vikar (Hilfspriester) verlebte er in anregendem Verkehr mit der bäuerlichen Bevölkerung (namentlich in Wurmlingen O. A. Tuttlingen) mehrere glückliche Jahre, deren Hauptgewinn in der Befruchtung zu einer lebendigen Teilnahme an den Offenbarungen der Ortsgeister zu allerlei „Volkstümlichem“ bestehen dürfte. Er begann in der Art Ernst Meyers zu sammeln, legte aber bei der Beurteilung und Verwertung der eingeheimsten Schätze den spezifisch schwäbischen Maßstab an.
Bald finden wir ihn in München, wo er an der K. bayr. Staatsbibliothek als Unterbibliothekar eine Verwendung gefunden hatte. Seine germanistischen Studien setzte er zu Breslau und Berlin fort, um sich 1869 an der Universität zu Bonn als Privatdozent niederzulassen. Schon 1872 ward ihm eine ordentliche Professur für deutsche Philologie daselbst übertragen.
Seine unermüdliche und erfolgreiche Tätigkeit auf dem ihm eigenen Gebiet der schwäbisch-alemannischen Kultur- und Sittengeschichte – sowol in seinem akademischen Lehramt, als auch in schriftstellerischer Gestaltung seines reichen Wissens – ist allgemein bekannt, [Ξ] wenn auch nicht überall in dem erwünschten Maße anerkannt. Von dem ersten Versuch an, mit dem er sich vor die Oeffentlichkeit wagte (kritische Neuausgabe von Nik. Frischlins Hohenzoller-Hochzeit 1860) bis herab auf seine in ihrer Art klassische Schlussarbeit „Rechtsrheinisches Alemannien: Grenzen, Sprache, Eigenart“ in A. Kirchhoffs Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde IV, 4 (Stuttg., J. Engelhorn 1890, 4 Mk. 80 Pfg.) zeugen alle seine Veröffentlichungen von dem entschiedenen Beruf Birlingers zur Erforschung und Behandlung des geistigen Landschaftsbildes, dessen Begriff er eigentlich erst schaffen musste, um einerseits die gelehrte Welt seinen Zwecken dienstbar zu machen und andererseits das Schwabentum, um dessen Vorgeschichte es sich hier handelt, zu einer tieferen Erkenntnis seiner selbst zu führen.
Die reiche Saat, welche Anton Birlinger in drei langen Jahrzehnten ausgestreut, ist zwar nicht immer auf fruchtbaren Boden gefallen: aber wo sich „gutes Land“ fand, trug sie im schwäbischen Busen dreißig- bis hundertfältige Frucht. Die 19 Bände seiner Alemannia bilden ein bleibendes und – in ihrer (wolls Gott!) glücklichen Fortsetzung – lebendiges Denkmal seiner Erdentage. Von ihm gilt in Wahrheit die schöne schwäbische Losung:
Zu sein ein Schwabe,
Ist auch eine Gabe.
Winzerhausen (Württemberg). | AUGUST HOLDER. |