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Autor: Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz)
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Titel: Phantasie
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aus: Ein jeder lebt’s.
Seite 113–161
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Originalherkunft:
Quelle: Scans auf commons und UB Bielefeld
Kurzbeschreibung:
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[113]

Phantasie


1

Aber sie ist doch ein achtjähriges Kind,“ wagte die Stadträtin vorzuhalten.

Ihr Mann warf die heiße Zigarre auf das Sofa. „Alberne Entschuldigung,“ grollte er und rettete mit vulkanischer Ruhe den roten Plüsch so langsam als möglich. „Das ist genau so, als wenn du über Kopfschmerzen klagtest und ich würde dazu bemerken: Aber die Stachelbeeren sind noch nicht reif. Ein nichtsnutziges, erzfaules, kalbsdummes Geschöpf ist das Mädchen!“

Onkel Fußball, welcher spreizbeinig daneben stand, beide Hände fidel in die Taschen vergraben, meckerte den Streitenden rücksichtslos ins Gesicht. Wie ein Metzgergeselle sieht er jetzt aus, dachte der Stadtrat von ihm und äußerte laut: „Vielleicht hast du die Güte, dein Amüsement über meine Sorgen ein wenig zu verbergen. Das wäre sonst genau so, als wenn ich mich feindselig in deine Angelegenheiten mischen und beispielsweise dich verhöhnen wollte, wenn dir auf dem Sportplatz ein Schienenbein zertrümmert wird. Daja,“ der Stadtrat sprach jetzt zur Lampe, äugelte aber zuweilen nach seiner Frau hinüber, „Daja wird leider unverantwortlich von uns verwöhnt und sie wird mich dafür in die Grube ärgern. Schlagen müßte man sie,“ der Stadtrat wandte sich mit unväterlichen Fäusten dem Fenster zu, wo Mademoiselle ekstatisch Beifall nickte, „schlagen müßte [114] man sie, daß ihr die Knochen aus dem Halse hängen.“

Als alle im Zimmer über diesen ungewöhnlichen Vergleich teils entrüstet, teils belustigt nachdachten, wurde Herr Scholz sanfter, fing an, seinen gutmütigen Bauch zu streicheln, und redete zu diesem fort: „Warum klagt Herr Andex denn niemals über Chile oder über Peter? Warum sind denn die fleißig und folgsam? Nicht wahr, Herr Andex, ist dem nicht so?“

Der Hauslehrer, welcher insgeheim ein Gesuch betreffend Salärerhöhung plante, nahm sich zusammen, raffte seine überlangen Gehrockschöße hinterm Rücken, trat zwei Schritte vor und setzte mit gehobenem Ernst ein: „Ich wäre ja zufrieden, wenn Daja etwas wie guten Willen, Wollen, etwas Streben, etwas Vorsatz, Ansatz, Anlauf, etwas, etwas – zeigte. Aber nein, sie ignoriert meine Vorhaltungen, Vorstellungen; geistesabwesend und störrisch. Sie huldigt Spielereien und will sonst nichts beachten. Entweder zeichnet sie unter der Bank Schwäne in die Schulbücher,“ Mademoiselle nickt so gewaltig, daß unter dem rotblonden Haarsaum ihres Hinterkopfes ein grauer Haarsaum hervortrat, „oder sie lungert stundenlang heimlich mit dem Forstgehilfen im Walde herum, während ich mir die Augen nach ihr wund suche.“ Frau Scholz lächelte ironisch. „Oder sie schwänzt die Schulstunden, um Blumenhochzeit und ähnliche Kindereien im herzoglichen Park zu spielen.“

[115] „O, ik liebe der Kind so sehr,“ rief die Französin stürmisch, „aber sie ist eine zu garstige –“

Frau Stadtrat erhob sich geräuschvoll: „Das Kind hat allerdings reiche Phantasie.“

„Phantasie ist Quatsch!“ brüllte Herr Scholz. „Und ich will ihr den schon austreiben. Heute bekommt Daja kein Essen, und sie wird zwei Stunden in die Lampenkammer gesperrt. Das wäre ja sonst genau so, als wenn – –“

„Jawohl Herr Stadtrat,“ unterbrach der Hauslehrer, „man muß – –“

„Man muß ihr fragen,“ unterbrach Mademoiselle, „ob sik – –“

„Am Ende wäre doch –,“ unterbrach die Stadträtin.

„Wozu denn solche –,“ lachte Onkel dazwischen.

Da alsdann gleichzeitig jedes der Anwesenden zu der Meinung kam, der einsichtsvollste, vornehm überlegene Teil zu sein, gingen die Zankenden plötzlich auseinander. Herr Stadtrat zog indessen noch Herrn Andex beiseite und empfahl ihm, strenger mit Daja zu verfahren. Danach bat die Stadträtin Herrn Andex beiseite und riet ihm, es einmal in Güte mit Daja zu probieren. Danach lud Onkel Fußball Herrn Andex zu einer Partie Billard ins Café Kürzel.

[116]

2

Gu-Gu-Guten Tag, Leu-Leute. Oberkellner, bringen Sie mir eine Pa-Pastete, à la reine, und Schampus für mich! Für die übrigen Gäste hier Bier oder Kaffee, Schnaps, was wa sie haben wollen. Ich bin kein Filz, der seinen Wochenlohn in die Sumpfstrocke – Strumpfsocke bindet, wie Heine Klevers.“

Da der Kellner jedoch nur ein frostiges Kopfschütteln mit ausweisenden Blicken servierte, ereiferte sich der also Bediente – anscheinend ein Kohlenarbeiter, der, nach seiner Färbung zu urteilen, direkt, oder noch glaubhafter, auf dem Umwege nach einer Schnapsdestille von der Arbeit kam – in einer weitschweifigen Rede, welche, wenn man sie für pure Wahrheit nahm, bewies, daß der Kohlenmensch Jahre zuvor einmal Historie studiert hatte, oder mindestens bei einem Historiker in Stellung gewesen war; ferner daß und wie drastisch er damals seinem intimen Freunde, dem Prinzen Ferdinand, die Meinung gesagt hatte und dergleichen Bewundernswertes mehr.

Trotzdem ward der Vortragende, ein noch junger Mensch, dessen linkes Auge erblindet schien, mit Worten, Gesten und Püffen an die Außenluft genähert. Doch die hinter ihm ins Schloß fallende Tür vermochte nicht seine inzwischen an Kraft geschwollene Stimme zu unterdrücken, welche noch beteuerte: er ginge von selbst aus der verdammten Spielhölle, und er danke für [117] Pastete, Lamettrie sei an Trüffelpastete gestorben usw. usw.

Diese Szene war es, die den Onkel Fußball im Lachen schüttelte, als er mit Andex das Café verließ. Wenn sein Begleiter nur gezwungen beilächelte, so lag das daran, daß ihn der Anblick des Einäugigen entsetzt hatte. Herr Andex murmelte unterwegs schaudernd mehrmals vor sich hin: „Sie haben es ihm ausgeschaufelt.“ Auch war eine Goldplombe im Gebisse jenes Trunkenboldes aufgefallen, die den Hauslehrer an qualvolle Lehrjahre bei einem Zahntechniker erinnerte und an eine Erfindung, für die er damals viel Arbeit, Zeit und Hoffnung vergeudet hatte. Seine Idee war ein künstlicher Zahnschmelz gewesen, welcher viel Heil, Ruhm und Geld bringen sollte.


3

Mademoiselles Antlitz wurde mild. Sie war eingeschlummert und träumte nun, daß sie als Gemahlin des blonden Husarengenerals von St. Honoré, zudem als Mutter von drei Kindern mit ihrer Familie und etlichen geladenen Gästen in einem – ihrem – entzückenden goldweißen Speisesaal soupierte. Auch der Stadtrat nebst Frau waren geladen.

„Nein, was besitzt Exzellenz“ – Mademoiselle war gemeint – „für bildhübsche und artige Kinder!“ äußerte jemand; und Herr und Frau Scholz [118] erröteten. Ihre Exzellenz erwiderte sehr vernehmlich: „Artig sind sie freilich, und es kommt davon, daß wir uns nie in die Erziehungsmethode unseres Hauslehrers, beziehungsweise unserer Mademoiselle einmischen.“

Herr und Frau Scholz er-violetteten.

„Aber so langen Sie doch bitte zu, Frau Stadträtin,“ ermunterte Ihre Exzellenz und winkte einer Livree, den letzten Gang, gefüllten Kapaun, nochmals zu präsentieren. „Bei uns darf niemand hungrig von Tisch aufstehen, n’est-ce pas mon cher?“

Seine Exzellenz küßte die weiße, brillantüberfunkelte Hand von Ihrer Exzellenz. Ihre Exzellenz bog ihren anmutigen Nacken so, daß sie just noch das Ehepaar Scholz im Auge behielt und scherzte leichthin: „Ja, bei uns geht es immer friedlich zu, wir streiten uns nie.“

Beifällige Meinungen umflüsterten die Tafel. Einiges, wie „anmutiger Nacken“, „liebenswürdige Gesinnung“, „General, welch aristokratische –“ wurde verständlich.

Stadtrat und Stadträtin wollten sich grimmig auf Ihre Exzellenz stürzen, um sie zu erwürgen, wurden aber von den Livreen gepackt und lautlos aus dem Saal geführt.

Und alles verurteilte aufgebracht die ordinären Störenfriede, welche Frau Generalin hochherzig als Leute entschuldigte, denen krankhafte Phantasie die Köpfe verwirrt hätte. Und alles pries enthusiastisch Ihre und Seine Exzellenz. –

[119] Als Mademoiselle noch träumte, ward der Papagei munter, reckte sich, plusterte und begann zu gröhlen: „Caro As – Lausbub – Lausbub – Lausbu–“ Als der Vogel den elften Lausbub ausrief, ward Mademoiselle munter.

Ob ich am Ende das alles nur träumte? dachte sie. Ja! Nein! … Doch! … Nein! … Ja! Der General ist ja schon elf Jahre tot. Oder nicht? Nein! … Ja! … Nein! … Ja!

Sie trieb sich in Stößen aus dem Bette, gähnte grauenhaft und nahm sich während des Ankleidens vor, Daja wegen einer lüderlichen Übersetzung zu züchtigen.


4

Verschwelt, schmutzig waren die Wände, die Tische und Bänke, die niedrige Decke in dem Lokal und alles schmucklos, aus plumpem Material, um der rücksichtslosen Behandlung einer beschränkten und verdächtigen Menge standzuhalten. Und diese Menge umgab mich dicht, bunt und in mehrerlei Sprachen durcheinander zankend. Es gab ein Bild, wie es bäuerische Obstmärkte ähnlich bieten. Doch jene Trinkstube war mit Menschen verschiedener Rassen, tiefstehenden, harten, gefühlsarmen Wesen vollgestopft, Männern und Weibern, die nur das Recht persönlicher Stärke fürchteten oder nutzten. Schwarze, Weiße, Gelbe, Braune, Cowboys – stellen Sie sich diese Cowboys [120] vor: Riesenhafte, muskulöse, urschöne Kerle, mit langen Haaren von flutendem Taubenblau, mit verwegenen, stolztrotzigen spiegelnden Augen, mit gleichsam metallenen Gesichtern. Derbfriedlich, rohfeindlich: Man sagt, bei ihnen käme auf zwei Worte ein „God dam“, auf fünf Worte ein „shake hands“ und auf zehn Worte ein Messerstich oder Revolverschuß. Das sind die Kuhjungen.

Sie tragen die Taschen voll zerknitterter Banknoten, die sie mit der Faust auf den Tisch dröhnen, wenn sie fordern, und dann unmäßig für sich oder wohlfeile Freunde fordern. Denn so gewichtig der Lohn ist, den ihre rauhe Arbeit in den Ställen und Steppen bringt, sie wissen ihn ansehnlich und wüst zu verschlemmen!“

Die drei Zuhörer suchten ihre Aufmerksamkeit durch periodisches Kopfnicken und verschiedene So und Ja zu legitimieren, aber ihre Andacht war offenbar nur obligatorisch. Denn der Bergdirektor widmete einen Teil seiner Sehkraft den Neuesten Nachrichten, was mit Schwierigkeit verknüpft war, da die Zeitung in den Händen eines Knaben zitterte und sich zudem nur überkopf präsentierte; der Besitzer des Hotels schaute auf den Zeitungsjungen selbst, seinen Angestellten, weil dieser sich unterfing, in respektloser Nähe und ungebührlicher Haltung ebenfalls der Erzählung zu lauschen; und der Verlagsbuchhändler zog auffällig oft seine Uhr hervor.

„Ich trank,“ fuhr der Sprecher ahnungslos fort, [121]Whisky mit diesen Leuten. Ich mischte meinen Pfeifenqualm zu dem ihren, spuckte wie sie in die Stube, deren Fußboden für solchen Sport mit Sägemehl bestreut war, und sprach ein gemeines Matrosenenglisch. Aber ich blieb trotzdem über ihnen, nicht hochmütig, sondern lernend, forschend, angeregt und gefesselt, wie ein Maler, der sich an Effekten freut, wie Harun al Raschid, wenn er verkleidet das Volk belauschte; wie ein Knabe, der sich in ein Märchen aus Tausend und eine Nacht hineinlebt, vielleicht auch wie ein beobachtend schwelgender Dichter. Ich kostete große Welt im kleinen Raume und wußte, daß, wenn ich die zerschrammte Kneipentür öffnete, mir die tropische Nacht kühl entgegenhauchen und das Raunen des Meeres meine Gedanken weit, weit entführen würde.“

Herr Andex schwieg plötzlich, entgoß sein Glas in die Kehle und sprach, nachdem er eine nervöse Verlegenheit durch ein Taschentuchmanöver bemeistert hatte, in abfallender, nüchterner Tonart weiter: „Ich werde mich so knapp fassen, wie die Eile es zumißt: Also, während ich in jener Kneipe wie ein Pinseltupf in einem farbigen Gemälde sitze, schiebt sich auf einmal – –“ Fritz, der Zeitungsjunge, hatte wirklich vergessen, was und wo er war, daß er jemandem die Neuesten Nachrichten bringen sollte und daß nicht fern von ihm sein Chef saß. Fritzens begeisterter Geist war in die Tropen entflogen und nur der leere Körper blieb mit offenklaffendem Munde zurück. Es war umsonst, [122] daß der Hotelwirt böse Blicke schoß und seitwärts, unter Tischhöhe, dauernd mit der Faust signalisierte. Auch der Bergdirektor und der Verlagsbuchhändler interessierten sich jetzt für den Bengel und verfolgten sein unbewußtes Mienenspiel mit zunehmendem Vergnügen.

„– schiebt sich auf einmal ein alter zerlumpter Neger durch das Gedränge zum Schanktisch und will auf die Platte ein rotes, beutelartig gefaltetes und merklich schweres Schnupftuch heben, aber ein Zipfel desselben entgleitet seiner Hand, worauf eine Menge blanker Goldstücke zu Boden klimpert und nach allen Seiten unter die trunkene lärmende Gesellschaft verrollt.

Ich weiß nicht, ob der Niger Auftrag hatte, das Geld umzuwechseln, oder ob es ihm selbst gehörte. Kurzum, nun geschah etwas Eigenartiges: –“

Fritz bog sich nach Möglichkeit vornüber; seine Augenbrauen verzogen sich zu gotischen Bogen, seine Hände zerdrückten grausam die Neuesten Nachrichten.

„Im nächsten Augenblicke stürzten sämtliche Anwesende mit geradezu tierischer Gier zu Boden, um von dem Gelde aufzuraffen, und im übernächsten Moment sprang einer von diesen ungeschlachten Cowboys auf einen Stuhl, zog mit jeder Hand einen Revolver aus der Hosentasche und schrie, die Waffen gespannt vorstreckend: ‚hands up.‘ Und da alle, auch ich, im Nu die Hände hochwarfen – denn wir wußten, da galt [123] kein Spaßen – hieß der Cowboy den Wirt Schaufel und Besen holen und hielt uns andern so lange in Schach, bis die verlaufenen Münzen zusammengefegt und wohlgezählt ihrem Eigentümer zurückgegeben waren.

Dieser Zug bei einem Kuhjungen –“

„Dieser Eselsjunge!“ schrie der Hotelwirt außer sich und sprang auf den Zeitungsträger zu. Dieser fuhr zusammen und entfloh dann durch die nächstbeste Tür.

In der Damentoilette fand ein weithin vernehmbares Renkontre männlichen Geschlechtes statt.

„Das geschieht ihm ganz recht,“ sagte der Verlagsbuchhändler herzlich lachend und rüstete zum Aufbruch.

„Jawohl, durchaus!“ pflichtete der Bergmann bei und erhob sich gleichfalls. „Allerseits gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

„G’t Nacht!“

„Gute Nacht!“

„G’t Nacht!“

Herr Andex verlangte barsch Berechnung vom Kellner und zahlte ungewöhnlich kleines Trinkgeld. Um einen reuevollen Ärger zu verwinden, blätterte er noch eine Weile im Weinkatalog.

Vorübereilend wünschte ihm auch der Hotelwirt eine „geruhsame“ und bemerkte verbindlichst, die Erzählung sei wirklich sehr lustig gewesen. Herr Andex knurrte spitzig darwieder: „Aber die Stachelbeeren sind noch nicht reif.“ Schob sodann den [124] Weinkatalog beiseite und winkte den verschämt zurückkehrenden Zeitungsboy heran.

Von dessen Backen, die an einen Spielball erinnerten, war die rechte besonders gerötet, und Herr Andex drückte begütigend nun mehrmals auf die linke, als wollte er dadurch, wie man bei Gummibällen tut, auf der anderen Seite etwas konkav Gewordenes wieder konvex machen.

Endlich, indem er das Hotel verließ, steckte er noch dem Eselsjungen einen Taler zu.


5

Der Hauslehrer Andex hatte, einen ernsten Vorsatz umstoßend, wieder einmal eine Geschichte aus seinem Leben, diesmal dem Pfarrer, dem Doktor und dem Oberlehrer vorgetragen, und obwohl sie bei diesen aufmerksamen Zuhörern eine lebhafte Behaglichkeit erwärmt hatte, und ungeachtet der rundkörperliche Geistliche noch ein artiges Weinchen in Aussicht stellte, erhob sich doch der Hauslehrer und nahm großen Abschied, derart, wie man ihn nimmt, wenn man ein Nimmerwiedersehen für möglich hält. Dann schlug er einen ausgiebigen Weg durch das besonnte Städtchen ein, besuchte Frau Konditor Kürzel, Hans Dannenberg, den Bibliothekar Huckebein, auch dessen Eichhörnchen und andere angewöhnte Persönlichkeiten. Und weil ihm die Menschen überall mit kleinleutlicher Umständlichkeit etwas Langes [125] einredeten, was die kurze oder vielleicht ebenfalls lange Bedeutung barg: Wir haben dich liebgewonnen; weil auch die Giebel und die durchdenkbaren Fenstergardinen der Häuser oder Häuschen, die Gassenkinder, die Linden und einige wedelnde Hundeschwänzchen dasselbe kundzugeben schienen, geriet Andex bald in die heiterste Laune. So behielt er gutmütige Geduld, überall von neuem des längeren und breiteren Auskunft zu erteilen über Ursachen und Stunde seines Scheidens, ferner über seine Pläne in bezug auf die Spessartmühle, die er so unerwartet von dem kaum bekannten Onkel geerbt hatte, und über Sonstiges. Schließlich lenkte er die Schritte – und sang dabei seine vorzügliche Stimmung in einem mehrmals wiederholten, sinnlos fragmentarischen Refrain heraus – nach dem herzoglichen Forsthaus, wo er sich, da der Oberförster nicht zugegen war, ein Gewehr borgte, ein letztes Mal im oftbeschrittenen Revier zu pirschen.

Aber ziellos, kreuz und quer den Wald durchstreifend, dessen Bäume, Wege, Lichtungen und Futterschober liebe Bekannte waren, verlor Michel Andex wohl seine Absicht; denn es geschah nur ein einziges Mal, daß er die Büchse anlegte, auf eine sitzende Eule, welche sich verführerisch von der spätmatten Himmelsbläue abhob. Doch er schoß nicht; er brachte es an diesem Tage nicht übers Herz, etwas zu töten. Unerwägt, wie weit die mancherlei schmackhaften Getränke mitwirkten, welche er bei den vorangegangenen Visiten nicht [126] hatte abschlagen können, so durchströmte ihn nun eine weiche Begeisterung, die ihn mit vornehmen und weitspannenden Gedanken beschäftigte. Auch eine Wenigkeit von Wehmut färbte seine Betrachtungen, als er sich bei Sonnenuntergang ermüdet am Wiesenhang lagerte und mit halber Aufmerksamkeit verfolgte, wie der Widerschein fernwandelnder Wölkchen den Lauf seiner Flinte rot überzog. – Herr Andex befand sich in der Meinung, daß eine Mühle, deren Gesamtwert von einem Großbäcker nach bezahlter Besichtigung auf 40000 Mark taxiert war, eben dasselbe wie 40000 Mark Barvermögen bedeute. Indem er neben anderem seine Unfähigkeit zur Führung eines Mühlenbetriebes unterschätzte, dünkte er sich auf einmal vom armen, wie man sagt, aus der Hand in den Mund lebenden, zum wohlhabenden Manne geworden.

Und nun ein Strahl seines Blickes die grüne Wiese mit dem rührenden Volke der kleinen rotbetüpften Gänseblümchen überlief, während von weither die Armutslieder einer Ziehharmonika herüberbrandeten, öffnete sich dieses Mannes grundgütige Seele, und er begann sich mit groß ausholenden und tief eindringenden Ideen zu beschäftigen: Wie er hinfort mit seinem Reichtum, seiner Macht gar viel vergelten und erfreuen wollte.

Neben ihm schrillte eine schneidende Kinderstimme auf: „Herr Andex, ich habe ein Kaninchen!“

Daja, blühend in Glückseligkeit, kauerte sich [127] neben ihrem Hauslehrer nieder. Bedachtsam hielt sie ihr Röckchen im Schoße zusammengefaltet, wodurch die weißen Höschen über den nackten prallen Beinchen sichtbar wurden, und ihr Blondhaar hing lose vornüber. Dem Hauslehrer, obwohl er nur flüchtig hinschaute, entging nicht, wie niedlich sie aussah. Er vergaß darüber, zu fragen, wo sie herkäme, oder zu schelten, weil sie Mademoiselles Klavierunterricht entlaufen sei; er vergaß überhaupt zu sprechen. Das Bild dieser prallen Kinderwaden mit dem Spitzensaum von Hosen darüber hielt er fest, vervielfältigte es, führte es fort, mit einem verhältnismäßig unbedeutenden Teil von 40000 Mark in der Tasche, fort in einem heißen, ratternden Wagen durch Nacht an Laternen vorbei, die in regenpoliertem Pflaster widerblitzten und dann auf Teppichen zu rhythmischer Musik, Duft und geheimnisvoller Abgeschlossenheit. Und genoß schrankenlos, gehorchte, kniete nieder, küßte Fleisch und fühlte tief erniedrigende Schläge mit Birken – –

„Herr Andex, wann gehst du fort?“

Die Antwort ließ lange auf sich warten und klang unfreundlich: „Morgen, übermorgen.“

„Ist es wahr, daß du Abenteuer machst?“ Daja sah völlig naiv aus. Diesem rührenden Blicke konnte man nicht böse sein. Der Lehrer lächelte bitter.

„Abenteuer? Wieso denn?“ Und in einer Art Schamgefühl bezwang er sich, um Dajas weiche Ärmchen jetzt nicht zu streicheln, die vorsichtig [128] das weiche lebendige Spielzeug bedeckten. „Wieso, Daja?“

„Mutti hat’s gesagt.“

Der Geist des Herrn Andex wiederholte mehrere male: Ja ja, Abenteuer, ja ja, Abenteuer. Und mit dem Sinne dieser Worte beleuchtete er, was wie kinematographisch und grammophonisch in sechsunddreißigjähriger Länge nun vorüberraste, vorüberlautete.

Es war sein gewesenes Ich, es war der Geometer Andex, der im Boote stand, von braunen Kerlen nilabwärts gerudert.

Die dicke Tante Gerold gab ihm mit Blicken voll betrübter Nachgiebigkeit die Hand, da er Abschied nahm von ihr, die ihm seine Verwaisung entschädigt hatte.

Und er saß im Kupee des Hamburger Zuges mit phantastischen, unzerstörbaren Hoffnungen aufgeblasen neben dem redseligen Koch aus Halle und lachte innerlich in himmelhoher Überlegenheit, weil besagter Reisebekannter von „Bereuen“ gesprochen hatte.

Er, Andex, ward hin und her gerollt und das rote, rote, heiße Loch, in das er schweißtriefend schwarzes Futter schaufelte, schwankte hin und her, daß die heißen Kohlen darin sprühend durcheinanderrüttelten. In die furchtbare Musik schurrenden Eisenbleches, zusammenfallender Kohlenhaufen und vieler einander durchbrechenden Stimmen von Meer und Sturm schrak von oben das aufregende Kommando herein: „Forcierte Kraft!“ und dann [129] schrie jemand so gräßlich, so gräßlich –. Andex sah unbeirrt, geschäftlich auf das blutige Zahnfleisch. Er spürte kein Mitleid angesichts dieser vorübergehenden heilsamen Schmerzen, sondern drückte den Unterkiefer des Schreienden fest und gleichgültig nieder wie eine Türklinke. Aber er litt unter den quäkenden, quälenden Worten des neben ihm stehenden Chefs: Hörr Andöx, göfälligst dö Zungö runtördrücken. Hörr Andöx göfälligst dö drittö Feilö. Oh, sind Sö ungöschickt! Andörö Zangö! – Dieser schiefköpfige Zahntechniker, dieser bodenlos eitle, erbärmliche Wurm.

Da war es, als schritte, mit schöner hoher Stirn, ganz langsam, sanft und schweigsam die Mutter vorüber, und Michel, der in Erinnerung an die Sprechweise des Herrn Kästner noch unwillkürlich die Lippen komisch häßlich verzogen hielt, ward jählings von peinlicher Sehnsucht nach der früh Verstorbenen übermannt. Auch ein kleines Aquarellbild über einem orangefarbenen, spitzenbehangenen Sofa tauchte auf und wies das Porträt eines schwermütigen Mannes. Und als Tante Gerold darauf hindeutete und seufzend sagte: Dein guter, schlichter Vater; sein letzter, besorgter Wunsch galt dir, Michel. Da rief der Geist des Herrn Andex vor Mitgefühl überschäumend: Vater, sei unbekümmert; ich blieb immer ehrlich, so hart mir’s oft ging, und nun bin ich ja glücklich. Ich habe eine Mühle geerbt, die 40000 Mark wert ist – und Tante Gerold trug die Lilabluse, darüber den prächtigen Granatschmuck von Kaiser Wilhelm. [130] – Nun trug sie das schwarze Kleid: armer Michel, dein Vater ist heute nacht zum Allervater hinübergeholt.

Darauf bog sich Herr Andex laut unverhohlen schluchzend über das Geländer der Neckarbrücke und warf eine dreifarbige Mütze, ein begeistertes, kostspieliges Studium und seine innigsten Wünsche in den Strom.

„Rudys Frettchen hat es aus dem Bau gejagt und Treff hat es gefangen. Soll ich es in den Stall zu den Ponys tun? Denkst du, daß es leben bleibt?“

Wo – wer sprach da? Ach, Daja war es, Daja, die an seiner Seite spielte.

„Ja,“ erwiderte der Hauslehrer spät und kehrte sogleich in sein Sinnen zurück zu den Bildern und Gestalten seiner Vergangenheit, die ihm auf einmal überwältigend viel zu umfassen schien. Er traf sich in der brasilianischen Farm, wie er dem Mestizen das Messer entwand und dort zum erstenmal Lepupa erblickte mit ihren vollkommenen Elfenbeinzähnen – seine Zahnerfindung –

„Was soll ich ihm denn zu fressen geben?“

„Ja,“ sagte der Hauslehrer.

– Brotlos, frierend, verschämt in einem Wartehäuschen des Bremer Hafens übernachtend und damals, als Erlösung, die Hauslehrerstelle bei Stadtrats. Herr Stadtrat, Frau Stadträtin – macht Abenteuer, ja, ja, macht Abenteuer. Aber es war doch immer ein gnädiger Gott nahe gewesen, wenn die Not am höchsten – und nun [131] schenkte er gar die Mühle, das Geld, mit der Freiheit, der Selbständigkeit. Er war es diesem Gotte schuldig, jetzt denen ebenso gnädig zu verzeihen, und er wollte und konnte. Und „nicht wahr,“ setzte Daja ein, „morgen taufen wir es?“

Ihr Lehrer hatte wohl überhört. Flüsternd, aber deutlich sprach er ein Verschen vor sich hin:

„Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, was es wolle,
Es war doch so schön.“

Die achtjährige Schülerin, welche diese Poesie nicht ganz verstand und sie auf das Kaninchen bezog, lächelte mit allerliebstem geschmeichelten Besitzerstolz, indem ihre Fingerchen gelinde über die verschrockenen Rollaugen und das appetitliche Schnäuzchen des zitternden Tierchens strichen.

Nun trugen die Schwingen der Gedanken den bleichen Mann mit dem schlotternden Gehrock hoch in das goldene Futur, wo unabsehbare, jugendlang und jugendheiß erhoffte Wonnen winkten. Und doch war oben Michels erster Blick wieder rückwärts, abwärts gerichtet, wo das unumgrenzbare, ungreifbare, unglaubliche Vorbei sich in wirren Rätseln verlor. Jetzt geschah es, daß der Hauslehrer von einem friedesamen, milden Schwindel ergriffen wurde.

Zauberhaft! dachte er. Märchenseltsam! Aber es liegt noch etwas namenlos darüber, was so wehmütig stimmt, etwas so – ein –

„Herr Andex, wie soll ich es denn taufen?“

[132] – ein unnennbares, eine, so eine – er suchte und suchte nach einem wörtlichen Ausdruck für das Gedachte und endlich sprach er ihn laut aus: „Verstorbenheit.“

„Ver-stor-ben-heit?“ wiederholte Daja fragend, und ihre Verwunderung dehnte das Wort.

„Ja,“ nickte Andex traumtrunken, „Verstorbenheit“.

Und plötzlich erhob er sich energisch mit dem Ruf: „Aber Daja, was treibst du? Wir müssen nach Hause, marsch! Mutti wird schelten.“


6

Daja sprang, und es glückte. Unten betrachtete sie, was es gekostet hatte, mit einer Miene, die Trotz und banges Gewissen schillerte. Da war der Daumen vom Blech der Dachrinne geritzt. „Ph!“ meinten die Lippen gleichmütig und dann wuschen sie dem Finger das Blut ab. Ernster dagegen mahnten die Flecken in dem roten Batistkleid, welche gar zu ausführlich eine Rutschpartie über Teerpappe beschrieben. Flüchtig betastete Daja die braunen starkriechenden Kleckse mit einer rührend schmutzigen Patschhand, drehte sich alsdann freiheitsleicht auf dem Absatz herum und wanderte. Wanderte unverkennbar absichtlich eine durchaus ungerade und unbequeme Linie, welche anfangs breite Pfützen teilte, wo jeder Schritt einen vergnüglichen fächerartigen Wasserschwall [133] verspritzte. In der Nähe des Schulneubaues überbuckelte die Linie einen Sandhaufen; und das rote Batistkleid besaß eine geräumige, weißgesäumte Tasche; so war es natürlich, daß etwas von dem feinrieselnden Sand in die Tasche gelangte, was später in einer anderen Gasse von der kleinen Patschhand mit regelmäßigen Bewegungen und dem möglichst rauh wiederholten Rufe „Vorsehn! Bitte, vorsehn!“ wieder weithin ausgestreut wurde. Wie denn gewisse Männer in München ein halb Jahr zuvor auf glattbeeisten Straßen ähnliches getan hatten, damals, als Daja die Tante Walli besuchte. „Vorsehn! Bitte, vorsehn!“ Nun zeigte sich freilich kein Glatteis. Denn Daja zog jetzt durch den Frühling. Der Sonnenschein war mit Vogelgeschwätz gefüllt, und ein gesunder Wind regte das Hängeschild der Konditorei Kürzel in knarrenden Angeln. Unter dem Plakat vor der Haustür lauerte der Feind namens Bäckertrude. Der verlachte die Sandstreuende, und als diese mit einer herausgeblökten Zunge entgegnete und Bäckertrude darauf zum Angriff überging, entschlüpfte Daja mauseschnell linksab durch einen Torbogen, lapp, lapp über einen gebirgig bepflasterten Hof, husch, husch durch die Bresche eines wackeligen Zaunes, von Stein zu Stein über einen Bach und auf schräger Ebene zwischen Hecke und Graben bis zu der strohbedeckten Hütte Faserkinns. Eduard Faserkinn, vom Hauslehrer Andex so getauft, war ein vierbeiniger Esel, welcher mit der Stadtratstochter in [134] geheimnisvoll vertraulichem Verkehr stand. Daja, die daheim allen gegenüber – die alte Kinderfrau Murmel ausgenommen – störrisch und wortkarg blieb, wurde bei Eduard Faserkinn zutraulich und offenherzig und plapperte selbstgenüge ohne Einhalt mit Freund Asin, den sie vorn an seinen müden Bebberlippen liebkoste und hinten an dem abgewetzten traurigen Schwanzstücke quälte. Daja nötigte ihm Riesenbissen von Heu auf, die er unglücklich hinterwürgte, wenn er, in die Ecke gedrängt, nicht entweichen konnte. Daja schleppte einen Eimer voll Wasser herbei, der schwerer wog als sie selbst, und Daja hämmerte stumm, doch dringlich an die blinden Scheiben des tauben Schuhmachers Pinzwürmel.

„Hoho,“ krähte Pinzwürmel und schob das Fenster hoch, „bist du da, Rackerchen? Hast du den Grauen gefüttert, hoho? Brav, Rackerchen! Da hast du was.“ Und lohnte die gute berechnete Tat mit einem Griff blanker Kirschen, die in der weißgesäumten Tasche versackten.

Nach und nach, auf der Weiterreise nistete sich noch anderes in diese Tasche ein. Tannenzapfen, ein Fasanenei, eine Nachtigallfeder, auch kleine Steinchen.

Blätterrauschen und Duft streichelten durch das Erlenwäldchen.

Dort, wo Daja über Moos und Wurzeln vorwärtsholperte, knackten die Büsche, und dann tauchte der rote Batist auf, noch ehe die freien Kaninchen entschlüpfen konnten, noch ehe die wilden [135] Tauben sich liebetrennend emporgeschwungen hatten. Einmal wurde das Dämchen Scholz von einem dreisten Ast ruckweis am Röckchen zurückgerissen und mußte sich unbillig mit einem Kleiderriß loskaufen. Und es fand sich ein anderer, höchst lustiger Ast, der nicht zu passieren war, ohne daß man ihn springend erhaschte und ein-, zweimal daran wippte. Es wartete an bewußter Stelle eine von Försterrudy aufgestellte Raubtierfalle, und des Stadtrats Töchterlein entdeckte wichtig, daß keine Katze sich gefangen hatte. Es kam eine staubige Landstraße, wo die zierlichen Armchen zu Pleuelstangen wurden und das Mädchen unwillkürlich pfeifend und zischend in Rhythmus geriet. Und Vogelnester und Blumen: Margariten, Jasmin, Heckenrosen, Kornblumen; blaue, gelbe, weiße, lila Blüten. Bald vermochten die jungen Fingerchen kaum noch die Stengelbündel zu umklammern, einen Kranz wollte sich Daja flechten und auf den Kopf setzen und die übrigen Pflanzen allmählich vor sich hinstreuen und ganz langsam und ganz feierlich darüberwandeln, welches Spiel sie Blumenhochzeit nannte. Üppiger Mohn, der frivol in den Kornfeldern frohlockte, brachte ihr zudem einen neuen vielverheißenden Einfall: Sie würde mit den roten Blüten die Schwäne auf dem Schloßteich bewerfen; das mußte sich ausnehmen wie Blut; und dann würde sie Begräbnis spielen. O wie wundervoll war die Welt außerhalb der Lampenkammer, wie grenzenlos weit!

Trotzdem hätte Daja beinahe den braunberockten [136] Parkwächter umgelaufen, der in den Buchengängen, auf den taxusgesäumten Kieswegen und geschorenen Rasenflächen wie ein Maikäfer herumtorkelte, um nach Unbefugten auszuspähen. Dieser Schafskopf, der noch gefürchteter als Bäckertrude war, schimpfte schauderhaft, wollte der davonrennenden flatterblonden Sünderin nachsetzen, erinnerte sich an sein Holzbein, blieb stehen, spuckte viermal und trank fünf Schlucke aus einer dunklen Flasche.

Nicht lange danach am Schloßteich überzeugte sich Daja schmerzlich, daß die Schwäne – es waren ihrer vier, nein fünf – vom Ufer nicht erreichbar auf der Wasserfläche ruhten und weder von lockenden Lauten noch von drohenden Steinwürfen sonderlich Notiz nahmen. Aber ein schmaler Bootssteg mochte Daja den Tieren näher bringen. Sie legte die Blumen beiseite, behielt nur den Buschen Mohn in Händen und kroch auf allen Vieren ängstlich aber mutig das Brett entlang.

Ja, sie rückte den schaurig schönen weißen Vögeln näher, immer näher – – – noch näher – – o weh! Nicht ganz – vielleicht – –

Die Schwäne, hundert Schwäne, entfalteten sich brausend, schlugen mit gewaltigen Fittichen nach dem Kinde, peitschten das Wasser zu haushohen Wogen, wollten Daja totbeißen, schrieen laut, entsetzlich, schrieen. Aber da kam gerade der Herzog des Wegs, im Frack, mit der Brille, und heute trug er auch die goldene Krone auf dem Haupte.

[137] Er verjagte die Schwäne mit einem Schwerte, welches funkelte wie ein Sternenhimmel, weil es über und über mit Diamanten verziert war.

Nun fühlte sich Daja mit eins wieder so froh, so selig und so dankesvoll für ihren Retter, nur wußte sie nicht recht, wie sie es ausdrücken möchte. Nach langem Entschließen reichte sie endlich dem Herzog das Mohnbukett. Das nahm er, bedankte sich und verehrte ihr dafür seine Brille, und Stadtrats Tochter wiederum grub die Kirschen aus dem weißgesäumten Schacht, wischte sie mit dem Ärmel ab, weil etwas Gelbes von dem Fasanenei, auch etwas von Sand und Nachtigallfeder daran klebte, und gab sie dem Herzog. Darüber war dieser dermaßen entzückt, daß er bat, sie möchte zum Lohn sich etwas wünschen.

Sie wünschte, wünschte, wünschte, wünschte: Herr Herzog möge sie heiraten. Aber es müßten Blumen gestreut werden und – –

„Und,“ fiel der Herzog ein, „nun tue auch einen Wunsch für deine Eltern.“

„Vati und Mutti,“ entschied Daja rasch, „mußt du hunderttausend Taler schenken.“

„Gut! Und Onkel Fußball?“

„Auch hunderttausend Taler.“

„Und Murmel?“

„Hundertmal hunderttausend Taler!“ jubelte Daja und hob sich auf die Zehenspitzen, während ihr Körperchen in Begeisterung bebte.

„Und Mademoiselle?“

Die Kleine stockte. „Mademoiselle nur einen [138] Taler,“ bestimmte sie und zog ein bitterstrenges Mademoisellegesicht.

Unzählige Diener und Dienerinnen in blausilbernen Uniformen schwärmten herbei und streuten Rosen aus; und Daja als Herzogin wandelte Arm in Arm mit dem Herzog durch den Park an dem braunen Parkwächter vorbei, welcher sich demütig verneigte und um Verzeihung bat; und in der Ferne leuchtete


7

Über kaltes Rindfleisch und trockenen Kartoffelsalat schoß unwirsch, verärgert und herrisch der Befehl: „Murmel soll nach dem Park laufen und das Balg herbeischleppen!“

Uber Kartoffelsalat und Rindfleisch sandte die Stadträtin unwirsch, verärgert aber streitbeharrlich die Auskunft zurück: „Murmel ist schon lange dieserhalb unterwegs.“

Gabeln, Messer, Teller und Tassen tönten in Bewegung. Alle Speisenden lauschten diesem Geräusch.

„Unerhörte Ferkelei,“ fuhr Herr Scholz jäh von neuem auf, indem er seine Tasse klirrend niedersetzte, „da schwimmen Fliegen und ekelhaftes Wurmzeug im Tee.“

Der Diener überstürzte sich, erklärte aber dann zu Onkel Fußballs Freude völlig ruhig: „Das ist kein Wurmzeug, gnädiger Herr; das sind Teeblätter.“

[139] Vielleicht ohne Absicht zerbrach der gnädige Herr die besprochene Tasse. „Das ist mir gleich, ob Wurmblätter oder Teezeug. Jedenfalls will –“

Vergeblich versuchte seine Frau noch einmal zu besänftigen: „Rege dich doch nicht so auf wegen des Kindes.“

„Ich mich nicht aufregen wegen diesem Galgending, diesem Sargnagel, diesem faulsten, dümmsten und unverschämtesten von meinen Kindern? Nicht aufregen? Ha, ha, nicht aufregen! Das ist genau so, als wenn das Bett unter mir in Flammen aufloderte und du würdest zu mir sagen: Laß dich nicht stören.“

„Nun ist’s genug!“ brauste Frau Scholz, und sie wuchs gleichsam dabei. „Daja ist heimlich zum Fenster hinausgeklettert, gut –“

„Nicht gut!“ überschrie Herr Scholz.

„Also nicht gut,“ überbot Frau Scholz. „Daja hat gefehlt, und ich werde sie nach Gebühr bestrafen, aber wir anderen wünschen ihr Vergehen nicht zu entgelten.“

Mademoiselle rückte mit dem Stuhl und flötete: „Ich möchte mik doch lieber nach der Kind umsehen; wer weiß, wo sie sik hertreibt.“

„Bleiben Sie nur, liebste Ma’selle, Murmel wird sie schon finden.“

„O der süße leichtsinnige Kind! Sie konnte sik totschlagen. Und sie muß über das Teerdach von der Remise gegleitet sein, wie wird das rote Röckchen aussehen! oh, oh!“

Onkel Fußball hatte tüchtig und wohl gespeist [140] und mischte sich nun behaglich in das Gespräch: „Die Remise ist mit Ruberoid gedeckt; das enthält keinen Teer,“ berichtigte er provozierend. Da fand endlich auch Herr Rommel, der neue Hauslehrer, Gelegenheit, etwas in die Konversation einzuschieben, nachdem er bisher schweigsam eine Maschine aus Messerbänkchen, Serviettenring und Löffel konstruiert und eingehend beobachtet hatte. „Verzeihung,“ knietschte er, „die Remise trägt doch Dachpappe.“

Chile und Peter verhielten sich angestrengt manierlich und warteten halb furchtsam, halb schadenfroh auf ihrer Schwester Erscheinen.

„Zu unartig, ihre armen Eltern so zu kränken,“ barmte Mademoiselle und schüttelte erstaunlich viel rotblonde Locken, auch ein vorwitziges graues Löckchen.

„Vati,“ hub Peter an, ungewiß in bezug auf die Wirkung, „Daja hat auch die Glasscheibe vom Spielkasten zerschlagen.“

„Wetten wir, daß ihr Kleid keinen einzigen Teerfleck aufweist?“ proponierte Onkel Fußball dem Hauslehrer. „Es gilt eine Schachtel Apis.“

„Verklagt euch nicht immer gegenseitig,“ schalt Frau Scholz ihrem Sohne zu.

„Ja, nimm du sie nur noch in Schutz,“ zischte der Stadtrat, „aber ich werde sie zum Krüppel zermalmen, mit dem Rohrstock hauen, bis –“

„Und ich verlange Ruhe in meinem Hause.“

Onkel Fußball wieherte amüsiert. „Unterlaß diesen Hohn, bitte,“ bellte ihn der Stadtrat an.

[141] „Na, du wirst wohl erlauben, daß ich –“

Die Tür öffnete sich aufschreckend, und die alte, in der Haltung fast rechtwinklige Murmel mit ihrem farbenschwachen Haar, farbenschwachen Gesicht und farbenschwachen Kleide präsentierte sich. Sie schluckte ein paarmal – „Luftgurken,“ wie Onkel Fußball es bezeichnete – und preßte dabei die gefalteten Hände auf den Magen, wie sie immer tat, wenn sie etwas von Wichtigkeit vorzubringen hatte. Die am Tische kicherten. Nur der Stadtrat rief zornschäumend vom Stuhl aufspringend der Kinderfrau entgegen: „Vor allen Dingen bring mir den Rohrstock herein, den Rohrstock!“

„Den braucht’s nicht, Herr Stadtrat,“ sagte Murmel schwer und bitter mit einer Stimme, die alle lähmte, „unser Herrgott hats Dajerle fortgeführt. Daja“ – auf einmal schluchzte die Alte gräßlich auf – „Da-da-aja ist ertrunken.“


8

Wir werden mißachtet, so lang wir getrennt sind, wir, die Sekunden, und sind entschwunden, bevor ihr uns kennt. Wir tropfen zusammen zur Geltung Minute: Sechzig Geschwister von einem Blute.

*

Zwanzigmal drei. Wir, die Familien, wir, die Minuten, spielen vorbei, tippen am Zeiger der Uhr, nippen vom Schlechten und Guten, nippen [142] nur. – – Hörst du dein Herze schlagen? Bangst du? Leidest du Qual? Ho, wir können es tragen.

Und quellen zu Tal, zum ernsteren Bunde, zur Stunde.

* *

Zeigerrunden fristen wir Stunden. Glocke und Wächter grüßen und künden namhafte Geschlechter mit Ruf und Schlag. – Bewahr uns ein Lächeln; auch magst du uns hassen. Wir bächeln, wir bächeln unhaltbar, gelassen hinab zur Gemeinde, zum Tag.

* * *

Aber uns Tage nenne Gewichte in der Schale Geschichte. – Bringt unser Schicksal dir Plage, leiht es dir trügerisch Ruh, – denke: auch wir fließen weiter, dem Stamme der Woche zu.

* * * *

Wir silbern euch Haare, wir mürben euch Knochen; ihr merkt es nicht. – Feste feiern wir Wochen, begeisterungsbare Feste, die nie zu vergessen. Sonne der Nacht zeigt wohl indessen achtmal uns neues Gesicht.

Strömen wir langsam zu Hauf. Monat, glückliches Volk, nimm uns auf!

* * * * *

Zwölf an der Zahl und gleichen einander nie. – Lausche, ehe wir weichen, mahnender Melodie. Redet vom Schmelzen, vom Welken, redet von dem, was wahr. – Lausche! – Wir münden ins Jahr.

* * * * * *

[143] Wir Jahre lichten die Schädel. Wir männern die Knaben. Wir weibern die Mädel. Wir lassen gebären, denn Kinder wollen wir haben, sich wachsend zu freuen am Frühling, an Ähren, am bunten Laub und am großen Schnee. – Wir brausen dahin, eine starke Armee. Wir sind das mächtige Heer der Zeit auf der maßlosen Straße von Ewigkeit zu Ewigkeit.


9

Frieren Sie?“ Vor dem harten, geschäftsmäßigen Klange dieser Frage blieb eine abgemagerte, schieläugige Gestalt, die von einer rostbraunen Hemdbluse und ebensolcher Hose umschlottert wurde, im übrigen nur noch mit Sandalen bekleidet war, einen Moment furchtsam stehen. Jedoch mit eins fing sie an zu kichern, sprach dann undeutlich und sehr schnell und trippelte hastig kreiswärts weiter. „Nein, ich friere nicht; sie haben mir zu gut eingeheizt. Ich danke Ihnen, Herr Sonnenkranz, Sie haben mir die Hölle hübsch heiß gemacht. Sie und Ihre respektablen Herren Kompagnions.“ Herr Sonnenkranz verbeugte sich verbindlich und stellte bei der Gelegenheit vorsichtig seinen Zylinderhut zur Erde.

„Ja wirklich, ich danke Ihnen, Herr Stadt – Herr Sonnenkranz. Es brennt etwa für dreißigtausend Mark Papier, abgesehen von den vielen Balken. Das langt für drei Kessel; ich schätze, es bringt uns tausend Seemeilen vorwärts. Hallo, [144] Jungens von Madeira! Hallo, Mister Sonnetal! An Bord! Wir dampfen durch den Spessart. Südost durchs Mittelländische in den Nil. Ich habe einen Kanal dort entdeckt.“

„Es wird nicht reichen,“ meinte Sonnenkranz achselzuckend. Der Rostbraune lachte: „Dann passen Sie mal auf, ich verstehe mich aufs Feuern. Unsere Glatze mag ein wenig frieren, aber es bringt uns vorwärts. Jedes Hundselend hat Ausgänge. Wählen wir den letzten.“ Bei diesen Worten stieß er Sonnenkranzens Zylinderhut mit einem Fußtritt in die Weißgluthöhle des Ofens. Ein Heizer lud ein Schaufelmaß Kohlen obendrein. „Wie ein Totengräber, der einer Mutter den Abschied nachpoltert. So, nun werden wir Lepupa besuchen. Es soll königlich werden, Herr Sonnenkranz. Sie lacht Elfenbein; wirklich, wirklich, sie hat meine Erfindung im Munde. Full steam, firemen! Sie werden doch keine Angst haben? Zum Henker mit all dem! Wir schlucken uns durch zehn Faden Atlantic zum Himmel, oder zur Hölle, Herr Sonnenkranz, oder wir erleben Dinge, von denen Sie nichts ahnen, Sie Stinktier.“

Der Rotbraune sang:

„Denn was der Seemann heimlich schaut,
Erzählt er nur einer Eintagsbraut.
Die wird als Hure sterben gehn;
Doch beide haben die Welt gesehn.“

„Fire up!“ Der Sänger puffte den Heizer an die Rippen, fuhr aber zusammen, als dieser ihm langsam ein einäugiges Gesicht zudrehte.

[145] „Mein Gott, sie haben ihm das andere ausgeschaufelt, merken Sie wohl, Herr Sonnenkranz?“

Herr Sonnenkranz gab keine Antwort, und der Rostbraune ließ sich kläglich mutlos auf die orangefarbene, spitzenbehangene Bank nieder.

„Lepupa! Le-pupa! Lepu-pa!“ wimmerte er in verschiedenen Tongestalten des Schmerzes vor sich hin.

Es war, als hätte sie vernommen, denn gleich darauf erschien sie, nackt, nur mit dem prächtigen Granatschmuck von Kaiser Wilhelm angetan, erinnerungsgetreu, traumwahr in ihrer bezwingenden Schönheit; den gewaltigen bräunlichen Körper, die vollen mattglänzenden Frauenbrüste mit mißachtender Lässigkeit wiegend. Sie blickte ihn wollustschürend, streng an, und irgendwo in dem Perlmutterweiß ihrer Augen gestand sich die allbereite Liebe, die schrankenlose Willfährigkeit ein.

Aber Lepupa entschwand wieder, bevor der Rostbraune sich aufgerichtet hatte. „Ach, Lepupa, geh nicht davon! Lepupa, bleibe! Lepupa, du Vieh! Ich kann ja nicht zu dir kommen; sie haben mir die goldenen Räder gestohlen.“

Es schien, als kehrte sie zurück. Doch nein, eine andere nahte, ganz langsam, sanft, eine alte ehrwürdige Dame mit schöner hoher Stirn. „Michel, ich bin es, deine Mutter. Du hast böses Geld verloren; was liegt daran. Du bist krank, arm, du leidest; ich weiß alles; schäme dich nicht. Du hast bewahrt, was ich dir mit gab, und damit halte aus.“

[146] Er aber weinte lange, umklammerte ihre Hände; und nun erkannte er, daß es doch Lepupa war, die er festhielt. Anna Lewise kam, Daja kam, die bucklige Ägypterin von Fayum und Tante Gerold kamen, dazu Sonnenkranz mit seinen Kompagnons und andere Herren, sämtlich in schwarzen Anzügen, mit schwarzen Handschuhen und gewichsten Zylinderhüten, und Herr Kästner sagte: „Wir wollön seinö und ihrö Knochön verteilön.“ Dabei griff er Lepupa ins Gesicht und riß ihr mit spitzen Fingernägeln die Augen heraus, daß sie nur noch an blutigen Fleischbändern hingen, tief niederhingen. „Gott, Gott! Mutter! Erbarmen!“ Der Rostbraune wich zurück, Lepupa mitreißend. Die Männer folgten mit furchtbar ausgestreckten Armen, wie riesige scheußliche Krebse, Schritt für Schritt. Seine Zähne schlugen klappernd auf- und auseinander. Er fror, und seine Augen zwinkerten unter rinnendem Schweiß. Er hörte keinen Laut, fühlte nur, wie die blutigen Fleischbänder mit Lepupas Augen an seinen Körper anpendelten, wich weiter zurück, wandte den Kopf und erblickte hinter sich das glühende Feuerloch. Dann, unmenschlich aufkreischend, packte er den Wasserkrug und schlug um sich. –

„Nummero 16 doppelte Seitenfessel!“ befahl der Direktor einem Wärter und schloß die Beobachtungsklappe.

[147]

10

Von oben gleist grasgrüner Ampelschein herab auf eine graue, ovale Bürste und ein Straußenei, auf den Mahagonitisch, welcher ein Schachbrett, ein Glas und eine Flasche Tokayer trägt, außerdem die gewichtigen Oberkörper von zwei greisen Männern stützt; auf einiges mehr. Wunderliche Schatten blinzeln allenthalben, und auf dem olivenfarbigen Teppich blitzt eine verlorene Stecknadel. Rund um den Lichtbann herum, der noch knapp die beiden Sammetstühle schneidet, träumt grundloses Dunkel, aus dem nur wenige Gegenstände hervordämmern, sich manchmal um ein Geringes zu bewegen scheinen. Hie und da klappert eine Figur auf dem Brett.

Auf einmal setzt ein kleines, anhaltendes Geräusch ein.

Das Straußenei hebt sich; es ist der Schädel des Siebzigjährigen. Er neigt sich seitwärts, um zu lauschen. Ebenso lauscht Onkel Fußball – die graue Bürste – und sagt nach einer Weile mit hohler Stimme das eine Wort: „Holzwurm.“

Der Stadtrat nickt, so oft, als vermöge er nimmer einzuhalten, und aus seinem froschartig schnappenden Munde ringt sich eine schwache dünne Sprache: „Es wird Zeit, mit den Würmern in Konnex zu treten. Gardez!“

Onkel Fußball zieht die Dame zurück. Der andere rochiert. Schweigsam, tristlaunig, gemächlich [148] überlegend, spielen die gleichstarken Gegner friedlichen Krieg.

Der Holzwurm, nicht mehr beobachtet, bohrt emsig weiter. Eine gestorbene Motte fällt von der Ampel herab, gerade in die Mündung der Flasche; niemand bemerkt es.

Endlich macht der Grauhaarige einen Ansatz, etwas Frohsinn in die bange Stille zu reden: „Ja, ja, der olle Rollemann,“ brummt er, mühsam grinsend und kramt damit ein längst vergangenes Gespräch wieder hervor, „er war kein anständiger Mensch, aber ein spaßhafter Kauz – Schach!“

Der Stadtrat, ohne etwas zu erwidern, schiebt einen Bauer vor und gerät abermals ins Kopfnicken. „Schach!“

Die Bürste entwickelt einen glücklichen Trick und – „Schach!“ – fährt fort zu plaudern: „Wenn ich nicht irre, lebte damals noch Daja – Schach und Gardez! Nein, der ist vom Springer gedeckt. Sie war solch ein liebes Mädel.“

„Oh,“ bricht des Stadtrats hohe Stimme ein, „das Bravste, das Klügste, das Beste von meinen Kindern, das einzige, das mir mit Freude vergalt.“

Onkel Fußball merkt wohl, wie sein Partner mit dem Finger über die stumpfen Augen wischt. „Und drollig in ihren Einfällen. Schach! Gib die Partie auf: es bleiben dir höchstens drei Züge. Ich besinne mich noch, sie hatte ein Kaninchen, das sie Verstorbenheit nannte. – Ein närrisches Mädel.“

[149] Müde, stöhnend, gähnend legt sich der Stadtrat im Sessel zurück. Onkel Fußball gießt zitternd Tokayer ins Glas, leert es, schluckt die tote Motte mit hinunter. „Der Teufel mag wissen, was hinter dem Goal steckt.“ Nochmals füllt er das Glas, „Prosit Alter,“ klingt es an die Flasche.

Und in die späte Stunde hinein hallt ungewürdigt ein schluchzender, gedehnter Laut, wie ihn die Zither mitunter gebiert, wie ihn die Nachtigall weint.


11

Es war ein altes Weib, das sich mit Betteln ernährte, das von Krankheit entstellt und obwohl der Sprache des Landes, in dem sie lebte, mächtig, doch eine Fremde dort war. Denn sie stammte aus Frankreich, und die Leute, die das wußten, nannten sie deshalb und ob ihrer Unsauberkeit „Madame Schmütz“.

Madame Schmütz war unredlich und schlau, und wenn sie bettelte, log sie den Leuten allerlei anschaulich vor, gab an, daß sie neun hungernde Kinder habe, daß sie die Gattin eines Husarengenerals gewesen und dann schuldlos ins Unglück geraten wäre, und anderes mehr, was die Leute zur Mildtätigkeit bewegte. Ja, es kam vor, daß die Bettelnde sich anstellte wie eine Blinde, die sie doch nicht war; und auf solche Weise erwarb sie sich das, was sie brauchte, um Brot zu kaufen, [150] ein kleines Stübchen mit Bett und Heizung zu bezahlen und um Schnaps trinken zu können.

Über Madame Schmütz wohnte Maletimmi, ein seelensgutes Mädchen, eine kluge, fleißige, aber ebenfalls sehr arme Künstlerin. Sie hatte die Alte lange beobachtet, auch wohl erkannt, wie garstig und nichtswürdig sie bei allem Elend war, aber gerade deswegen fühlte die Künstlerin doppeltes Mitleid mit ihr. So ersann sie in schöner Liebherzigkeit einen Plan, und lief straßhin und straßher, treppauf und treppab zu vielen wohlhabenden befreundeten oder fremden Menschen, um Helfer für das alte Bettelweib zu werben.

Mancherorts ward ihr übel begegnet, aber nach geduldigen Mühen fand sie eine Frau, welche versprach, Madame Schmütz als Magd anzustellen, eine andere, die Kleider schenkte, und wieder andere Leute, die Schuhe und Geld für den edlen Zweck hergaben.

Und eines Tages begab sich Maletimmi frohen Gemütes hinunter zu der Bettlerin, um ihren Plan zu eröffnen. Diese war betteln gegangen. Sie hatte sich dazu nach dem wohlhabenden Stadtviertel jenseits des Flusses gewandt, der dick, braun und schaumig wie abgestandener Kaffee und träge dahinfloß, war über die breite Holzbrücke und ein, zwei Straßen entlang Almosen erflehend von Wohnung zu Wohnung gewandert und betrat nun die Vorhalle eines stattlichen Hauses. Dort standen mit goldenen Buchstaben an der ersten Tür zwei Worte, vor welchen Madame [151] Schmütz überrascht stehen blieb. Sie nannten den Namen eines Mannes, den sie genau kannte, da sie zu glücklicheren Zeiten mit ihm in ein und demselben Hause einen ähnlichen Posten wie er bekleidet hatte. Nun las sie erbebend mehrmals hintereinander die Worte Michel Andex.

Der wird mir helfen, jauchzte sie leise, und ihre Augen blitzten.

Aber dann jagte ein häßliches Grinsen über ihr blatternarbiges Runzelgesicht. Nein, er kennt mich nicht; sie sind alle gleich, alle, alle, alle. Ich hatte ihn nie besonders gern, und er haßte mich. Er war ein Laffe, ein eingebildetes Huhn. Aber das Haus ist gut. Die Tür ist fein; das Schild ist polierter Stahl; er wurde reich und er wird Erbarmen haben. Es muß ihn ja ergreifen.

Langsam, geräuschlos stieg sie drei Stufen empor, trat an die Tür, legte die Hand um den Klingelknopf, zog aber nicht, sondern wartete sinnend.

So ihn wiedersehen – es hörte sich an wie Stöhnen – so vor ihn hintreten. Nein!

Sie schlich die drei Stufen wieder hinab und verharrte wieder regungslos.

Aber Not lehrt alles – flüsterte sie – und stieg von neuem die Stufen hoch, zögerte abermals zu läuten. Und läutete nicht.

Scheu, erregt, wund im Herzen kehrte sie um und eilte hinweg. So blieb es ihr verborgen, daß Michel Andex schon längst nicht mehr hinter dem polierten Stahlschild wohnte.

[152] Und niemals erfuhr sie, daß daheim die gütige Maletimmi mit froher Botschaft auf sie gewartet hatte.

Denn an jenem Tage stürzte die breite Holzbrücke zusammen und riß mit anderen vermutlich auch Madame Schmütz in das kaffeebraune, schaumige Wasser.


12

Der Spruch der Kartenfrau, welche sich jedes Wort mit fünfzig Pfennigen bezahlen ließ, hatte gelautet: „Deine Bahn ist grau, glatt und führt dich zu Kränzen.“ Wer konnte nun sagen, daß das prophetische Wahrheit, wer sagen, daß es für fünf Mark Lüge war?

Signor Pero Fortezza glaubte halbwegs an Wahrheit. Die Geldausgabe würde ihn keinesfalls gereuen, obschon sie empfindlich in sein Budget einschlug. Dicht vor einer für ihn bedeutungsvollen Entscheidung wollte er alles versuchen, was Hilfe versprach, und versuchte alles. Am Morgen des sehnlich erhofften und bang erwarteten Tages wie am Abend zuvor hatte er seit langer Zeit wieder einmal gebetet, ungefähr so: Lieber Gott, wenn du mir beistehst und mich diesmal siegen läßt, will ich fromm werden und Gutes tun und in die Kirche gehen. Dem war ein sehr ungeläufig herausgebrachtes Vaterunser gefolgt, und die Stelle „Vergib uns unsere Schuld, wie [153] wir vergeben unseren Schuldigern“ hatte den Betenden in Zweifel verstrickt. Er gestand sich, manchem seiner Schuldiger nicht ganz vergeben zu haben.

Wohl hege ich – sprach er zu sich selbst – keinen Groll gegen meinen Vater, der mich verstieß. Der handelte so streng, klein und ehrlich, wie er wandelte. Auf dem schattenlosen Felde seines Gewissens wuchs kein Kräutlein, um eine Entschuldigung für Diebstahl zu brauen.

– nicht mehr vor Augen, bis du etwas Tüchtiges ehrlich geworden bist, was immer es sei.

O du braver, gekränkter Vater! Deine liebste Tochter starb, da ihre Locken kinderblond beglückten, der anderen hat Dünkel das Herz erfroren; und ein verschollener Dieb und ein ver- verlaufenes Weib. Das ist deine Familie, für welche du stets das Beste wolltest. Nicht anders als mit heißem Mitleid in Reue und Liebe kann ich deiner gedenken. Aber niemals – meinte Pero – niemals würde er die bitteren, herzlosen Worte der Mutter verwinden, denn sie, die später Mann und Kinder nur – ja nur um einer sinnlichen Neigung willen verlassen hatte, war nicht mehr wert als er, der einmal im Leben einen Mißgriff getan, den er in der Härte aufrechten Broterkämpfens gebüßt hatte. Und seiner Schwester Chile, der gräflichen Geliebten, der überlegenen Künstlerin, ein bettelndes Wort zu geben, die ihn nicht mehr kannte, seitdem ein Hochgeborener sich ihrer erbarmt hatte, das ging nicht an; das wäre [154] ihm nimmer von Herzen gekommen. Nein, diese Schwester mußte er weiter offen hassen und verachten.

Sollte nun Gott dem Pero Fortezza so vergeben, wie dieser anderen Menschen vergab, so hieß das: er sollte ihm gar nicht oder doch nur unvollkommen vergeben. Oder barg jene Stelle im Paternoster anderen Sinn? Oder dies oder das? Am Ende war solches Wortedeuten nur ein nutzloses Spiel von Wahn. Gab es wirklich einen Gott, der aus seiner Allmacht heraus so viel Anteil nahm an dem winzigen Treiben winziger Wesen? Immerhin trat der Signor auf dem Wege zum Kampfplatz in eine Kirche ein, eine katholische Kirche, obwohl er Protestant war, betete vor dem Heiland kniend zum drittenmal und vergaß nicht ein mitgebrachtes, vertrocknetes Zweiglein Immergrün in das Weihwasser am Portal einzutauchen. Als er weitereilend später ein gelbes Sandsteingebäude passierte und eins von dessen Erkerfenstern in der Dauer des Vorübers innig betrachtete, glitzerten seine Augen im Taue der Rührung.

Dort oben sitzt der alte vergrämte Stadtrat Scholz einsam allmorgendlich vor seiner Zeitung. Was wird er empfinden, wenn er die Nachricht liest?

– bis du etwas Tüchtiges ehrlich geworden bist, was immer es sei.

Was immer es sei! Und es war ein Beruf ehrlich wie irgendeiner, nicht so ansehnlich, so [155] glänzend wie der seiner gräflich besonnten Schwester. Nein, seine Bahn war grau und glatt, aber –

Und Fortezza durchging wie ein tüchtiger Architekt noch einmal, am einzelnen prüfend, den einfachen, etwas sentimentalen, aber durchaus gewissenhaften Bau seiner Weltanschauung und fand alles sicher und wohlgefügt bis auf das Dach, das Höchste. Das war übel, planlos und lückenhaft errichtet.

Über die Begriffe Gut und Schlecht, Gott, Teufel, Zufall kam Pero nicht mit sich ins Reine und wollte es doch, gerade an jenem Tage. Immer tiefer quälte er sich ins Unentwirrbare. So kam es, daß er, an der Stätte der Entscheidung angelangt, von einer Unruhe befallen ward, welche die Sicherheit zu vernichten drohte, die er sich durch monatelanges Üben erworben hatte.

Was ihn äußerlich auf dem freien geschmückten Platze umgab, dieses große, festliche Sammeln, das Tausendgeschwätz, das Wehen und Winken, es beeinflußte ihn kaum; daran war er gewöhnt.

„Pero Fortezza,“ raunten kenntnisstolze Stimmen bei seinem Erscheinen am Start. Andere fügten hinzu: „Der Italiener.“

Er ward von einem Komitee begrüßt und grüßte wieder, sprach mit Berufsgenossen Formelles, Sachliches, Fachliches; wechselte in einer notdürftigen Garderobe seine Kleidung, ließ sich eine Tasse Kaffee reichen und warf ein Minimum Arsenik hinein; reihte sich grell kostümierten, meist namensbekannten Männern an, traf unter Beistand eines [156] feiertäglich geputzten Schlossers mancherlei Anstalten zur Fahrt um viel. Und vollzog das wie unbewußt, mechanisch, gewohnheitsmäßig; denn während er unauffällig mit dem Daumen kreuzweis über seine Brust fuhr, wo sich unter dem purpurroten Trikot ein geweihtes Zweiglein Immergrün verbarg, dachte er an sein früh verstorbenes Schwesterlein, von deren Sarg er das Immergrün vor Jahren gebrochen hatte, und flehte insgeheim: Lieber Gott, gewähre du. Ich will an dich glauben. Ich muß heute gewinnen: Einen Lorbeerkranz, ein großes Stück Gold und das alte Vertrauen eines entfremdeten Vaters.

Würde der überirdisch gewaltige, unüberragbare Gott ihn erhören, er, der alles mit unbegreiflich höchster Weisheit lenkte? Würde er auf die weltliche Angelegenheit eines Stäubchens so eingehen, er, zu dessen Thron jede Minute unzählige solcher naiven Wünsche trug?

Vielleicht war es zuverlässiger, in derlei Dingen zum Teufel zu halten. Denn die so taten, waren im Leben die glücklicheren. Und nach dem Tode? Bis dahin blieb Zeit.

Werde ich Erster, so will ich an dich, Gott, glauben! – Es war Fortezza, als ob er ein riesiges umlocktes Zeusgesicht lächeln sähe. Er wandte den Blick ab und auf ein silbernes Kettchen, das seinen Arm kokett umspannte. Eine Münze hing daran, der letzte Groschen von einer gestohlenen Geldsumme.

Teufel, Böser, ich weiß nicht, ob du bist. Aber [157] erringe ich heute den ersten Preis durch deine Hilfe, so gehöre ich dir.

Jedoch schließlich hängt alles an Menschenkraft und Menschenwitz und Zufall. Pero lachte ängstlich und griff unter den Sattel, wo ein rostiges Stück Hufeisen angebunden war; und Peros Finger zitterten ein wenig. Dann erfolgte ein Schuß. Musik und ein breiter Menschenmassenschrei zerrissen wie Donner die Luft, alles rückte, kreiste, verschwamm; und Pero hatte seine Ruhe zurück.

Er arbeitete in klarer Anstrengung aufgesparter, gepflegter und gemessener Kraft. Vor ihm Grünweiß, neben ihm Schwarzgelb, hinter ihm Blau. Zur Linken wuchs die grüne Fläche vorbei: Wiese. Rechts wogte die schwarze Mauer: Menschen. Er gewahrte aber wohl nur ein Stückchen Gummi, von Geschwindigkeit gleichmäßig grau gefärbt, darunter einen Streifen ebenso grauen, entgegenrasenden Asphalts, zwei Fäuste um eine Stange Eisen geballt, etwas vom Purpurrot und etwas von der Fleischhelle seiner eigenen Erscheinung, dazu manchmal sekundenlang vorüberschwindend einen Pfahl, einen Arm, ein Tuch, eine Fahne oder aber das Kolorit eines Mitbewerbers.

Schwarzgelb fiel ab.

Gott hilf! Teufelsmünze hilf! Hufeisen.

Grünweiß blieb zurück.

Peros Ohren füllten sich mit dem stoßweisen Keuchen des Atems, dem Schnurren der Maschine und Bruchstücken von berauschendem Konzert. Zerrissenes [158] verworrenes Stimmengebrause schwoll ihm von der schwarzen Mauer her zu, aus dem er mitunter einen einzelnen Ruf des Beifalls oder Tadels begriff.

„Bravooo Robl!“ vernahm er; es galt den Farben grünweiß. Wieder tauchte Grünweiß an seiner rechten Schulter auf. Jähe Verzweiflung schien den lechzenden Pero rückwärts zu reißen, Wut der Eifersucht ihn vorwärts zu stoßen.

Er erzwang noch ein Mehr, das Äußerste an Energie. Und hörte ein heißer gepfiffenes „Ihh, Ihh“; das kam aus der Lunge.

Bahn ist grau, glatt, führt zu Kränzen. Lorbeerkränze! Ein Lorbeerkranz rollte vor dem Eifertollen her.

Aber Grünweiß hielt sich zur Seite. „Bravooo Robl!“

Lorbeerkränze rollten. Auf der Brust stach schmerzlich das Immergrün. Ein Kranz Immergrün rollte zwischen die Lorbeerkränze, ein Totenkranz von Schwesterleins Sarg. Lorbeerkränze. Totenkränze.

„Bravooo Robl!“

‚Wenn ich jetzt die Kurve ansteige‘, dachte Pero, ‚schneide ich ihm den Weg ab‘, und er schoß rechts empor. Das war nach Fachbegriffen nicht anständig.

„Pfui, Italiener!“ gröhlte der Pöbel. „Ihh, Ihh“ pfiff die Lunge. Lorbeerkränze räderten. Totenkränze, Ruhmeskränze rollten. Immergrün. Räder schnurrten, Atem schnaufte, Musik schmetterte, [159] und dann kollidierte der Italiener Fortezza mit dem hiesigen Rennfahrer Robl. Letzterer kam mit leichten Hautabschürfungen davon, während Fortezza besinnungslos ins Hospital transportiert wurde, wo er, von Fieberphantasien gequält, hoffnungslos darniederliegt. (Wie verlautet, soll es sich gar nicht um einen Italiener, sondern um einen Deutschen namens Peter Scholz handeln.)

Die Zeitung, welche die Notiz kundgab, wurde auch dem Stadtrat Scholz in das Erkerstübchen getragen. Er las sie nicht, sondern zerfaltete sie, um Schiffchen und Soldatenmützen zu formen, ungefähr zur selben Stunde, da man, viele Meilen davon entfernt, der von Wonne umflorten Chile Scholz einen Myrtenkranz ins Haar flocht, welcher sie zur Gräfin krönte.


13

Vornehm gemeisterte Musik, welche, tausend Stimmungen aufwühlend, gleichsam etwas Langzeitiges, es mochte sein ein Leben, wiedergab, in notenfremd gereihten Tönen, Akkorden und Melodien, strömte reich durch ein formen- und farbenschön eingerichtetes Zimmer. Es geschah, daß der Spielende Beethovens Seele berührte und unwillkürlich dahin geriet, jene Stelle des ersten Finale aus Fidelio kindisch wie mit der Naivität eines Unbeobachteten mitzusummen.

O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben. [160] Gräfin Chile hatte sich launig, leise vor ihrem Kanarienvogel am Fußboden auf ein Pantherfell ausgestreckt. Sie blies feinduftenden Zigarettenrauch in des Vogels silbernen Käfig, dessen Tür sie spielerisch mit einem Rosenstengel aufhakte.

Alsbald huschte das gelbe Hänschen aus dem Bauer durchs Zimmer und in der Bahn eines noch kühlen Frühlingsluftzuges zu einem geöffneten Fenster hinaus.

Der Graf senkte die Hände auf die Tasten und sagte traurig und vorwurfsvoll: „Der ist nun fort, kommt nimmer zurück.“

Aber die Gattin entgegnete lächelnd: „Wohl ihm!“


14

Es sei genug mit dem, was ich gegeben. Ein jeder lebt’s, aber nicht vielen ist’s bekannt, und deshalb mochte ich einiges für einige deuten.

Leser, willst du noch vernehmen, was aus dem entflogenen Vögelchen ward?

Als es über das endlose kalte Steingebirge der Stadt flatterte, bald ermattet von der ungewohnten Flügelanstrengung, erschien ihm wohl ein Kirchhof wie eine grüne Insel.

Denn dort ließ es sich nieder. Und Spatzen kamen, die zerhackten den gelben Fremdling.

Ich habe ihn tot und zerstört liegen sehen am [161] Fuße eines schlichten, verfallenen Grabsteines. Auf dem stand unter einer Jahreszahl:

Hier liege ich und muß verwesen.
Was ihr noch seid, bin ich gewesen.
Was ich nun bin, das werdet ihr.
Geht nicht vorüber, betet mir.
                    Anna Murmel Benjamin.

Ja, das stand irgendwo dort, auf der grünen Insel Friedhof.