Osterwasser
[274] Osterwasser. (Mit Illustration S. 26l.) Alles hat seine Zeit, die Zeit des Emporkeimens, der Blüthe und des Zerfallens. Diesem ehernen Naturgesetze sind ebenso wie die Menschen auch ihre Werke unterthan – und die schönsten Sitten und Bräuche machen von der Regel keine Ausnahme. Auch sie altern, verlieren an Frische und Zauber, bis sie verwelkt der Vergessenheit anheimfallen. An dieses Werden und Vergehen selbst der tiefsinnigsten Bräuche erinnert uns das stimmungsvolle Bild des Osterwasserholens.
Ein uralter Glaube führt die Mädchenschar zur Quelle um die stille
feierliche Zeit, da am anbrechenden Ostermorgen der Himmel und die
Wolken in Purpurgluth erröthen. Um diese Zeit soll die allmächtige
Zauberin Natur in dem Wasser der Quellen und Ströme wunderbare
Kräfte erzeugen. Von Geschlecht zu Geschlecht berichtete der Volksmund,
daß das „Osterwasser“ Krankheiten heile, daß es Jugendfrische und
Schönheit dem Körper verleihe, Glück dem in Liebe erwachenden Herzen
und Reichthum dem ehrgeizigen bringe. Jahrhunderte lang lebte dieser
Glaube und stärkte nach seiner Art die schwindende Hoffnung in Tausenden
kämpfender Herzen, bis die Menschheit weiser wurde, an das Märchen
nicht mehr glaubte und Trost und Hoffnung bei dem Zeichen des Kreuzes
suchte, das vom hohen Thurme Wacht hielt über die Häuserschar der Stadt
und die frühen Wanderer am Ostermorgen an größere Verheißung,
dauernderes Glück, besseres Leben gemahnte! Von der Sitte des
Osterwasserholens blieb nur die leere schöne Form übrig, und so zog man jahraus
jahrein in der Osterfrühe zum Fluß und Quell in froher lustiger Schar. Aber
auch dieser Brauch verlor sich fast gänzlich, denn ihm fehlte die innere Weihe!
Vor Jahrtausenden, als noch die altheidnische Göttin Ostera gläubige
Verehrer in allen Gauen des Landes zählte, wurde die Osternacht anders gefeiert.
Ihre Priesterinnen wuschen sich in klaren Quellen das Gesicht und verrichteten
damit ein Hochamt der Göttin, welche alljährlich die Erde nach langem
winterlichen Schlaf zum neuen Leben weckte, wie das Bad den Körper
erfrischt. Das Osterwasser war nur ein Symbol eines tiefsinnigen auf
Naturanschauung beruhenden Glaubens. Später, als der Kultus der
Göttin und ihre Tempel und Haine und ihre Priesterinnen verschwunden
waren und nur die Erinnerung an die vergangene Zeit im Volke fortlebte,
ward der Glaube zum Aberglauben, welcher dem Symbol die göttlichen
Kräfte zuschrieb. Was einst nur die Göttin zu schaffen vermochte, das
sollte jetzt das Osterwasser wirken. Thörichter Wahn, den die Erfahrung
Lügen strafte. Der Brauch gerieth in Zeiten des Verfalls, und er suchte
in Ausflüchten sein Heil. Nun hieß es, man müsse heimlich das
Osterwasser holen, wenn man seine Kraft erhalten wolle, man dürfe von
Niemand beim Schöpfen überrascht werden, mit Niemand ein Wort wechseln
und so weiter, und so weiter! Thörichter Wahn auch dieses, hörte man
bald sagen, und nur der Gewohnheit halber wanderte man, wenn die
ewigen Sterne am Himmel erloschen, wenn die Klänge der Auferstehungsmesse
in christlichen Kirchen verhallt und verstummt waren, zum klaren
Quell, um gedanken- und glaubenlos einen alten Brauch zu üben. Aber
die vergessene Frühjahrsgöttin grollt nicht der Menschheit, selbst jetzt noch
lohnt sie die Mühe den Auserwählten unter ihren unbewußten Verehrern.
Durch das werdende Licht am Himmelszelt, durch das Murmeln der
neugeborenen Wellen, durch die erwachenden Lieder der Vögel weckte sie und
weckt allezeit in den zweifelnden Herzen den festen Glauben an die
Unsterblichkeit und Ewigkeit des Lebens. *