Offener Brief an den Genossen Bogdanow

Textdaten
Autor: Franz Wilhelm Seiwert
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Titel: Offener Brief an den Genossen Bogdanow
Untertitel:
aus: Die Aktion : Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst. 11. Jg., Nr. 27/28, Sp. 373–374
Herausgeber: Franz Pfemfert
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1921
Verlag: Verlag Die Aktion
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Erscheinungsort: Berlin-Wilmersdorf
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[373] Offener Brief an den Genossen A. Bogdanow!

Ihre Arbeit „Über proletarische Dichtung“ geht auf einen wesentlichen Teil der Dichtung und der Kunst nicht ein. Ich glaube den wesentlichsten, weil er, da er sich nicht machen läßt, die Gesinnung des Werks am wahrsten offenbart, ebenso wie die Erscheinungen der Unordnung des kapitalistischen Systems die Ordnung dieses Systems am besten enthüllen, weil die Herrschenden machtlos gegen sie sind. „Je mehr eine gesellschaftliche Tätigkeit, eine Reihe gesellschaftlicher Vorgänge der bewußten Kontrolle der Menschen zu mächtig wird, ihnen über den Kopf wächst, je mehr sie dem puren Zufall überlassen scheint, desto mehr setzen sich in diesem Zufall die ihr eigentümlichen, innewohnenden Gesetze wie mit Naturnotwendigkeit durch“, schreibt Friedrich Engels. Die Kunst ist eine gesellschaftliche Tätigkeit, ein gesellschaftlicher Vorgang und den Teil der Kunst, den Sie, Genosse Bogdanow, unberücksichtigt lassen, ist der, welcher der bewußten Kontrolle der Menschen zu mächtig ist, ist der Zufall, der die eigentümlichen und innewohnenden Gesetze des Werks, die Tendenz des Werks, am wahrsten offenbart.

Die heutige Kunst zerfällt in den dargestellten Inhalt und in die Form, in der der Inhalt dargestellt wurde. Damit, daß der Inhalt die Tendenz „proletarisch“ hat, daß er über den Kampf, die Solidarität, das Klassenbewußtsein des Proletariats aussagt, ist die bürgerliche Kunst noch nicht zur proletarischen geworden. Der Inhalt hat die Form zu sich umzugestalten, Inhalt und Form müssen Kampf, Solidarität, Klassenbewußtsein des Proletariats sein. Und das Werk, in dem dies geschieht, wird aus dem Kollektivbewußtsein geschaffen sein, wo das Ich, das das Werk schafft, nicht mehr bürgerlich-individualistische Vereinzelung ist, sondern Äußerung, Werkzeug des Kollektivs ist. Marx lehrte uns die Gleichheit aller gleichzeitig miteinander bestehenden Dinge erkennen, lehrte uns das gemeinsame ihnen innewohnende Gesetz an ihnen ablesen. Diese Erkenntnis nicht nur nach rückwärts beweisen (sozialdemokratisch opportunistischer Marxismus), ergibt, auf die Kunst angewandt, daß die proletarische Kunst erst dann da ist, wenn Inhalt und Form proletarisch sind.

Die Einstellung, daß proletarische Kunst sei, wenn bürgerliche Kunstform inhaltlich über Proletarisches aussagt, scheint mir ganz sozialdemokratisch zu sein, wobei der Begriff sozialdemokratisch die Zentralkommunisten einschließt. Es ist dieselbe Einstellung, die glaubt, den Produktioonsprozeß im kapitalistisch-zentralen Sinne von oben nach unten weiterführen zu können als die Produktionsregelung der kommunistischen Gesellschaft, dieselbe, welche die bürgerliche Wissenschaft durch sogenannte Einheitsschulen dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb entziehen will, in dem Glauben, die im Dienste des Bürgertums entstandene Wissenschaft könne von diesem Klassenstandpunkt freie, unabhängige, objektive Wahrheit verkünden und sei, aus den Händen der Bourgeoisie genommen, die Wissenschaft für das Proletariat. Ja, für das Proletariat, damit es Proletariat, Masse bleibt, jedoch nicht des Proletariats, wodurch sich das Proletariat aufheben, befreien wird. Nur dann ist es notwendig und damit gut, und hat das Proletariat vor der Geschichte, der Menschheit, ein Recht dazu, dem Bürgertum die Produktion aus der Hand zu nehmen, die Erkenntnisse der technischen Wissenschaften, wozu ich auch die medizinische rechne, sich nutzbar zu machen, die bürgerliche Kunstform als Propagandamittel zu gebrauchen, wenn es in dem Willen geschieht, die proletarische Produktionsregelung, die proletarische Wissenschaft, die proletarische Kunst zu schaffen.

Die kommunistische Gesellschaft, die proletarische Kultur ist nicht mit der Besitznahme der kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen Kultur geschaffen. Sondern dann haben wir sie zu schaffen, zu tun. Die proletarische Kultur ist dann da, [374] wenn ihre Form Ausdruck der Organisation, des Solidaritätsgefühls der Masse ist, im Werk sichtbar die Kräfte, die Bewegung, die Balance, kurz die „Natur“, die Welt, deren Teil und deren Gesamtbegriff die Masse ist, Erscheinung werden, den einzelnen zur Entwicklung seines Selbstbewußtseins, zum Selbstschaffen, zum Eingehen in die Gesamtheit zwingend. Es kann keine Zweiheit von Inhalt und Form mehr geben, denn dann sind Inhalt und Form eins.

So leicht wie Sie glauben, Genosse Bogdanow, ist es nicht, festzustellen, ob ein Werk aus dem Kollektivbewußtsein geschaffen ist oder nicht. Es ist noch nicht entscheidend, ob an Stelle von „Ich“ „Wir“ gesagt ist. Es ist immer die Frage, ob „Wir“ getan wurde, ob „Wir“ zum Werk wurde, hinter dem „Ich“ gleichgültig wird. Sehen Sie sich in dem Zusammenhang den „größten Zeichner Deutschlands, ja sogar Europas“ vor Gericht an */George Grosz/* und vergleichen Sie ihn mit dem Vorsitzenden der VKPD an gleicher Stelle. Es ist das gleiche Bild und eine gegenseitige Bestätigung. Betrachten Sie daneben Max Hölz oder einen der vielen namenlosen Proletarier, deren „Mund“ er war. Auch das ist eine Bestätigung!

Genosse Bogdanow! Für mich wird es immer klarer, daß die proletarische Gesellschaft überhaupt alle diese Teile, in die die bürgerliche Kultur zerfiel: Wissenschaft, Kunst und wieder deren Teile: Dichtung, Musik, Malerei und so fort, und Form und Inhalt nicht mehr kennen wird, sondern nur das aus dem wahrhaften Kollektivbewußtsein geschaffene Werk, in dem jeder zum Schöpfer wird, in dem jeder Schöpfer ist. Da erledigt sich auch die Frage, was aus vergangener Kultur die proletarische in sich aufnehmen wird. Nur das Vergangene wird bestehen, das in das Kollektivbewußtsein eingegangen, wieder aus ihm geschaffen werden. Die kommunistische Gesellschaft erträgt an keiner Stelle Führer und Götter, jeder muß und wird sein eigener Führer, sein eigener Schöpfer sein. Das ist der Räteaufbau gegen den sozialdemokratischen Zukunftsstaat!