Oberlandesgericht München – Gebrüllte Lieder

Textdaten
Autor: Oberlandesgericht München
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Titel: Auszug aus einem Urtheile des k. Oberlandesgerichtes München
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aus: Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern, Königreich Bayern, Band 1888, Nr. 37, Seite 412–415
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Kurzbeschreibung: Übermäßig lautes Singen von Liedern aufrührerischen Inhaltes ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt
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Auszug aus einem Urtheile des k. Oberlandesgerichtes München.

Aus den Gründen eines Urtheils des k. Oberlandesgerichts München vom 21. September 1888 in der Sache gegen den Schuhmacher A. D. in A. und Genossen wegen Verübung groben Unfugs ist Folgendes hervorzuheben:

In der für die Angeklagten angebrachten Revisionsbegründung wird die Verletzung des §. 360 Nr. 11 des St.-G.-B. gerügt. Jedoch mit Unrecht.

Nach der Feststellung des Berufungsgerichts befanden sich am Abende des 22. Januar l. Js. in der Jedermann zugänglichen Gastwirthschaft der G. und A. W.’schen Pächterseheleute zu A. etwa fünfzehn der sozialdemokratischen Partei angehörige Gäste, darunter die fünf Angeklagten, ferner ein Polizeiorgan und vier weitere, der obengenannten Partei nicht angehörende Gäste. Die Ersteren sangen aus einem: „Gedichte und Lieder freisinniger und besonders sozialdemokratischer Tendenz, zusammengestellt von J. Franz, Zürich, Mai 1872“ betitelten Buche mehrere Lieder, namentlich das Lied Nr. 11 „Arbeiter Feldgeschrei“ und Nr. 16 „Soldatenlied“, bei deren Absingen sich die Angeklagten in besonderer Weise hervorthaten und so schrieen, daß ihnen die Halsadern anschwollen, und jeder einigermaßen Gebildete den Inhalt der Lieder, insbesondere deren Refrain nicht blos im Gastzimmer, sondern auch auf der unmittelbar vorüberführenden öffentlichen Straße wohl verstehen konnte.

Auf Grund dieser Thatsache erklärte die Strafkammer die Angeklagten je einer Uebertretung der Verübung groben Unfugs nach §. 360 Nr. 11 des St.-G.-B. für schuldig und verurtheilte einen jeden derselben in eine Geldstrafe von 10 Mark und in die betreffenden Kosten, wobei sie annahm, daß die Angeklagten die vorbezeichnete Gesetzesbestimmung aus einem zweifachen Gesichtspunkte, nämlich dadurch, daß sie in einem öffentlichen Gasthause vor einer unbestimmten Anzahl bereits anwesender und neu hinzukommender Personen Lieder sangen, welche in Folge ihres die staatlichen Einrichtungen verhöhnenden und den Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung predigenden Inhalts bei Jedem, der nicht den in diesen Liedern enthaltenen Tendenzen huldigt, Aerger und Entrüstung hervorzurufen und daher die öffentliche Ordnung, die Ruhe und den Frieden der Allgemeinheit zu stören oder zu gefährden geeignet waren, und daß sie bei dem Singen der Lieder übermäßig laut schrieen, übertreten und hiebei mit dem Willen, diese Lieder zu singen, sowie mit dem Bewußtsein, hiezu nicht berechtigt zu sein, gehandelt haben.

Diese Feststellungen erschöpfen den Thatbestand einer Uebertretung der Verübung groben Unfugs nach §. 360 Nr. 11 des St.-G.-B., [413] welcher nach konstanter Rechtsprechung dann gegeben ist, wenn Jemand die öffentliche Ruhe und Ordnung dadurch verletzt, daß er vorsätzlich eine Handlung vornimmt, welche die Allgemeinheit, das Publikum als solches, im Gegensatze zu einem individuell begrenzten Personenkreise zu gefährden oder in ungebührlicher Weise zu belästigen geeignet ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Entscheidung der Frage, ob das Singen der fraglichen Lieder in der angegebenen Weise geeignet war, das Publikum ungebührlich zu belästigen und hiedurch die öffentliche Ordnung zu stören, gehört dem Gebiete des Thatrichters an und die von demselben in dieser Hinsicht getroffene Feststellung kann daher von dem Revisionsgerichte nur dahin geprüft werden, ob ihr kein Rechtsirrthum zu Grunde liegt.

Die Feststellungen der Strafkammer lassen einen solchen Rechtsirrthum nicht ersehen. In der Revisionsbegründung wird zwar behauptet, die Strafkammer habe den Begriff „Publikum“ irrig aufgefaßt, da nach ihrer Annahme zum Verständnisse der treffenden Lieder nicht Jedermann, sondern nur ein einigermaßen Gebildeter befähigt gewesen sei, und daher, nachdem nicht feststehe, daß die vier nicht sozialdemokratischen Gäste, welche außer dem Polizeiorgan in dem W’schen Gastwirthschaftslokale anwesend gewesen seien, zu den einigermaßen Gebildeten gehört hätten, oder daß auf der unmittelbar an dem Wirthslokale vorüberführenden öffentlichen Straße Publikum der fraglichen Kategorie vorhanden gewesen sei, nach der Feststellung des Berufungsgerichts im vorliegenden Falle das Publikum, bei welchem die von den Angeklagten gesungenen Lieder hätten Aergerniß erregen können, nur in dem vorgenannten Polizeiorgan bestanden habe, während dieses allein das Publikum nicht darstellen könne. Diese Rüge ist jedoch nicht gerechtfertigt. Denn daraus, daß die Angeklagten Lieder, deren Inhalt bei Allen, welche nicht den in diesen Liedern enthaltenen Tendenzen huldigten, Aerger und Entrüstung hervorzurufen vermochte, in einem öffentlichen, Jedermann zugänglichen Gastzimmer in Gegenwart von fünf der Partei der Angeklagten nicht angehörigen Gästen so laut sangen, daß dieser Inhalt von jedem einigermaßen Gebildeten in dem Gastzimmer und auf der unmittelbar vorüberführenden öffentlichen Straße verstanden werden konnte, hat die Strafkammer ohne Rechtsirrthum folgern können, daß das Singen dieser Lieder geeignet war, die öffentliche Ordnung, die Ruhe und den Frieden der Allgemeinheit, also des Publikums zu stören oder zu gefährden, da, wenn auch einige der im Gastzimmer anwesenden oder an dem Wirthslokale vorübergehenden Personen den Inhalt der Lieder nicht verstanden, doch immerhin eine unbestimmte Anzahl neu hinzukommender Personen, also eine nicht individuell begrenzte Menschenmenge durch das Singen ungebührlich belästigt werden konnte. Dazu kommt, daß die Strafkammer die Verübung groben Unfugs auch darin fand, daß die Angeklagten bei [414] dem Singen der Lieder in dem öffentlichen Gastlokale in unberechtigter Weise übermäßig laut schrieen, was ebenfalls nicht rechtsirrthümlich ist, da dieses laute Schreien, auch wenn es zunächst als eine ungebührliche Erregung ruhestörenden Lärmes sich darstellt, als ein grober Unfug aufgefaßt werden kann (Sammlung der Entscheidungen des Oberlandesgerichts München Bd. III S, 277).

Die Frage aber, ob das Berufungsgericht mit Rücksicht darauf, daß die amtsanwaltschaftliche Berufung in der zweitinstanziellen Hauptverhandlung vom 26. Mai l. Js. von der Staatsanwaltschaft auf die erfolgte Freisprechung von der Anklage wegen Verübung groben Unfugs durch Absingen sozialdemokratischer Lieder eingeschränkt wurde, befugt war, die Angeklagten auch vom Gesichtspunkte des unberechtigten lärmenden Singens aus einer Uebertretung aus §. 360 Nr. 11 des St.-G.-B. schuldig zu erklären, gehört dem Prozeßrechte an, sie kann daher im Hinblicke auf §. 380 der St.-P.-O. nicht zum Gegenstande einer Revisionsbeschwerde gemacht und deshalb auch hierorts nicht einer Prüfung und Entscheidung unterstellt werden.

Die Revisionsschrift macht endlich geltend, das angefochtene Urtheil finde in dem Inhalte der von den Angeklagten gesungenen Lieder, weil derselbe berechtigte Gefühle verletzen könne, das wesentliche Merkmal des groben Unfugs, erachte also die Aeußerung der Gedanken, da diese im Widerspruche mit denjenigen anderer Personen stünden, als groben Unfug. Diese Annahme verletze aber die Grundsätze der Verfassung des deutschen Reiches und der bayerischen Verfassungsurkunde, welch’ letztere ausdrücklich „Freiheit der Meinungen“ und „Gleichheit vor dem Gesetze“ als ihre Grundlage erkläre. Allein auch diese Beschwerde ist nicht begründet.

Die bayerische Verfassungsurkunde gewährleistet allerdings die Freiheit der Meinungen; allein hierunter ist lediglich die Freiheit der geistigen Thätigkeit zu verstehen (Dr. v. Pözl, Lehrbuch des bayr. Verfassungsrechts 5. Auflage S. 79), und auch diese ist nicht bedingungslos, sondern nur mit der gesetzlichen Beschränkung gegen den Mißbrauch gewährleistet.

Daher hat der Urheber eines Geistesproduktes, sobald dasselbe die Oeffentlichkeit betritt, für die durch dieses Produkt der Allgemeinheit oder einem Einzelnen zugefügte Rechtsverletzung zu haften, und ebenso ist derjenige, welcher einem Anderen gegenüber seine Meinung äußert, für die in dieser Aeußerung liegende Rechtsverletzung verantwortlich. Wie sonach eine Meinungsäußerung z. B. ein Vergehen der Beleidigung enthalten kann, ebenso kann sie, falls die gesetzlichen Merkmale gegeben sind, als eine Uebertretung der Verübung groben Unfugs sich darstellen. Die Strafkammer hat nun die Angeklagten nicht deshalb einer solchen Uebertretung für schuldig erklärt, weil sie Gedanken äußerten, welche mit den Gesinnungen und Anschauungen [415] anderer in der W.’schen Gastwirthschaft anwesenden Personen im Widerspruche standen, sondern weil ihre durch das laute Absingen von Liedern aufrührerischen Inhalts absichtlich und im Bewußtsein der Rechtswidrigkeit daselbst kundgegebenen Aeußerungen geeignet waren, eine unbestimmte Anzahl von Personen ungebührlich zu belästigen und dadurch die öffentliche Ordnung zu stören. Diese Handlungen erschöpfen aber den Thatbestand einer Uebertretung der Verübung groben Unfugs, und wenn die Angeklagten sodann hierwegen verurtheilt worden sind, so ist hiedurch der Grundsatz der Freiheit der Meinungen nicht verletzt. Ebensowenig steht die Verurteilung mit dem in der bayerischen Verfassungsurkunde aufgestellten Grundsatze der Gleichheit vor dem Gesetze im Widerspruche, da dieselbe auf Grund der allgemeinen Strafvorschrift des §. 360 Nr. 11 des St.-G.-B. erfolgte, welcher Jedermann unterworfen ist, der eine Handlung begeht, welche die vorbezeichneten Merkmale der Uebertretung der Verübung groben Unfugs in sich begreift.