Oberappellationsgericht München – Diebstahl und Bettelei durch Ausländer

Textdaten
Autor: Oberappellationsgericht München
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Titel: Mittheilung oberstrichterlicher Erkenntnisse
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aus: Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern, Königreich Bayern, Band 1877, Nr. 32, Seite 311–315
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Kurzbeschreibung: Fehlende Voraussetzungen zur Übergabe eines Delinquenten an die Landespolizeibehörde
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[311]

Der oberste Gerichtshof des Königreichs erkannte am 30. Juli 1877 in der Sache des J. L. von Bichelberg wegen Diebstahls und Bettels zu Recht:

Durch das Urtheil der k. Stadt- und Landgerichts K. vom 14. Dez. 1876 ist, insoferne (durch dieses Urtheil) erkannt wurde, daß J. L. nach erstandener Strafe der Landespolizeibehörde zu überweisen sei, – das Gesetz, nämlich der [312] §. 362 Abs. 2 des R.-St.-G.-B. durch unrichtige Anwendung verletzt worden.
Dieses Erkenntniß ist in das stadt- und landgerichtliche Urtheilsregister einzutragen.
Gründe.

J. L., lediger Taglöhner aus Oesterreich, wurde am 7. Nov. v. J. vom k. Stadt- und Landgerichte K. wegen Vergehens des Diebstahls und Uebertretung des Bettels abgeurtheilt und wegen ersteren Reates zu 10 Tage Gefängniß und wegen des letzteren zu 6 Tage Haft verurtheilt.

Nachdem er kaum diese Strafe verbüßt hatte, wurde er am 23. und 24. Nov. wiederholt auf Bettel und Diebstählen im Bezirke des Stadt- und Landgerichts K. betreten.

Er wurde deshalb neuerlich in Anschuldigungsstand versetzt und durch Erkenntniß genannten Gerichts vom 14. Dez. v. J. wegen zweier Vergehen des Diebstahls in eine Gesammtgefängnißstrafe von 21 Tagen, dann wegen zweier Uebertretungen des Bettels in eine Gesammthaftstrafe von 18 Tagen, sowie in die der Staatskasse überbürdeten Kosten verurtheilt.

Zugleich wurde in diesem Erkenntnisse unter Anwendung des §. 362 Abs. 2 des R.-St.-G.-B. ausgesprochen, daß der Beschuldigte nach erstandener Strafe der Landespolizeibehörde zu überweisen sei.

Gegen dieses Urtheil, welches rechtskräftig geworden ist, hat die k. Generalstaatsanwaltschaft wegen des Ausspruches der Ueberweisung des J. L. an die Landespolizeibehörde die Beschwerde zur Wahrung des Gesetzes erhoben, weil durch erwähnten Ausspruch §. 362 Abs. 2 des R.-St.-G.-B. unrichtig angewendet worden sei.

Die Prüfung der Sache hat Folgendes ergeben:

Das deutsche R.-St.-G.-B. statuirt in einer erheblichen Anzahl von Fällen Nebenstrafen, welche neben einer Freiheitsstrafe als Hauptstrafe erkannt werden können und zwar theils in Beziehung auf die Rechtsfähigkeit, theils in Beziehung auf Freiheit und Vermögen.

Die Fälle im §. 361 Ziff. 3–8, welche eine Nebenstrafe in Beziehung auf die Freiheit zulassen und wozu auch der Bettel gehört, zählen nach jetzigem Rechte nur zu den Uebertretungen, führen aber durch jene Nebenstrafen viel weiter gehende Folgen für die Freiheit der verurtheilten Person, als sonst bloße Uebertretungen, mit sich. [313]

Zur gesetzlichen Begründung dieser Nebenstrafe wurde in den Motiven des dem Reichstage des norddeutschen Bundes vorgelegten Entwurfes eines Strafgesetzbuches gesagt, daß die Personen, um die es sich handle, in der Regel geistig und körperlich verkommene Subjekte seien, die mit oder ohne Schuld nicht mehr die moralische oder physische Kraft besitzen, selbstständig und ohne fremden Halt ihre Existenz zu gründen und zu sichern, und deren Besserung nur dadurch herbeizuführen sei, daß dieselben längere Zeit zur Ordnung und Arbeitsamkeit und zu einem regelmäßigen Leben angehalten und zu dem Behufe in ein Arbeitshaus eingesperrt werden.

Deshalb wurde dieses in Uebereinstimmung aller Staaten für diese Kategorie von Personen für unentbehrlich erachtete und deshalb für die Landstreicherei, qualifizirte Bettelei, Arbeitsscheue und gewerbsmäßig betriebene Unzucht angeordnete Mittel Correktionshaft genannt und als Nebenstrafe fixirt.

Die Kompetenz zu ihrer Festsetzung wurde der Landespolizeibehörde überlassen, der Ausspruch ihrer Zulässigkeit aber dem Richter vorbehalten.

(cf. stenogr. Ber. über die Verh. des Reichst. des nordd. Bundes I. Leg.-Per. Sess. 1870 Bd. III., S. 88–90.)

Diese Nebenstrafe gibt demnach der Landespolizeibehörde die Befugniß, die Verurtheilten entweder bis zu 2 Jahren in ein Arbeitshaus unterzubringen, oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden.

Bei Ausländern tritt dann an die Stelle der korrektionellen Nachhaft in fakultativer Weise die Verweisung aus dem Bundesgebiete.

Ergibt sich nun schon aus dem Wesen, Zwecke und den Folgen, sowie überhaupt aus der gesetzlichen Motivirung dieser Nebenstrafe die Nothwendigkeit des Vorhandenseins besonderer Voraussetzungen, so ist dieses auch durch den Gesetzestext präzise genug ausgesprochen.

Die Worte, daß im Falle des §. 361 No. 4 die Ueberweisung an die Landesbehörde u. A. nur dann zulässig sein solle, wenn der Verurtheilte in den letzten 3 Jahren wegen dieser Uebertretung mehrmals rechtskräftig verurtheilt worden ist, erfordern strenge Auslegung.

Es brauchen zwar, wie Oppenhoff in Note 9 l. c. sagt, nicht die Voraussetzungen des Rückfalls vorzuliegen, so daß es also nicht der Feststellung, daß die zweite That erst nach rechtskräftiger Aburtheilung der ersten verübt sei, und ebensowenig einer Verbüßung [314] der Strafen bedarf; aber zwei Verurtheilungen müssen wenigstens gegeben sein, um eine Mehrmaligkeit annehmen zu können.

Nun hat das k. Stadt- und Landgericht K. in seinem Urtheile vom 14. Dez. v. J. festgestellt, daß der Beschuldigte am 23. und 24. Nov. 1876 in den Ortschaften N. und K. unter dem Vorgeben, den Arm mehrmals gebrochen zu haben, gebettelt habe, daß er am 7. Nov. 1876 wegen Diebstahls in eine 10tägige Gefängnißstrafe und wegen Bettels in eine 6tägige Haftstrafe verurtheilt worden sei, und auch früher schon wegen Mißhandlung und Sachbeschädigung Strafen erlitten habe.

Diese Feststellung reicht aber zur Begründung des Ausspruches der Ueberweisung des Beschuldigten an die Landespolizeibehörde nicht aus. Denn mit derselben ist nur eine einmalige Verurtheilung wegen Bettels, nämlich jene vom 7. Nov. constatirt. Es genügt aber nicht einmal, wenn eine einmalige Verurtheilung wegen mehrerer in Realconkurrenz begangener Übertretungen der fraglichen Art erfolgt ist, weil eine qualifizirte Verübung, also wenigstens eine in den Zeitraum der dem Urtheile vorausgehenden 3 Jahre fallende rechtskräftige zweimalige Verurtheilung wegen Bettels vorausgesetzt wird.

Auch der Art. 90 Abs. 2 des b. P.-St.-G.-B. v. J. 1861, an dessen Stelle der §. 362 des R.-St.-G.-B. getreten ist, erforderte zum Ausspruche der Zulässigkeit der Stellung unter Polizeiaufsicht oder der Verwahrung in einer Polizeianstalt, daß die betreffenden Personen auf Grund der Art. 87–89 zweimal gestraft worden sind. Dort war nur eine kürzere Frist bezüglich der Zulässigkeit der Correktion gesetzt.

Die gegen J. L. im Urtheile weiter angeführten früheren Bestrafungen betreffen laut Feststellung in den Entscheidungsgründen des besagten Urtheils andere Reate, nämlich Mißhandlung und Sachbeschädigung, welche zum Erkennen der Nebenstrafe nicht maßgebend sind.

Wenn etwa das k. Stadt- und Landgericht K. zur Feststellung des Voraussetzungen des §. 362 Abs. 2 des St.-G.-B. die Contraventionsfälle vom 23. und 24. Nov. mit in Rechnung gebracht hat, so würde hierin auch ein Verstoß gegen das Gesetz liegen, weil der Thatbestand des qualifizirten Bettels die mehrmalige frühere Verurtheilung bedingt,

cf. Meyer deutsch. Straft. 1875 S. 290,

mithin eine Einrechnung der Uebertretungen, welche Gegenstand des Urtheils bilden, in welchem die Nebenstrafe ausgesprochen [315] werden will, nicht geschehen darf, um so weniger, als das Urtheil im Augenblicke seiner Schöpfung auch nicht als rechtskräftig bezeichnet werden kann.

Das Erforderniß der vorgängigen mehrmaligen rechtskräftigen Verurtheilung wegen Bettels, welches nur allein zum fraglichen Ausspruche berechtigt, fehlt sonach im vorwürfigen Falle und ist deshalb der §. 362 Abs. 2 des R.-St.-G.-VB. allerdings unrichtig angewendet worden. Denn die im Schlußsatze des Abs. 2 für den Fall des §. 361 No. 4 gegebene Beschränkung gilt für den erkennenden Richter, nicht für die Landespolizeibehörde. Jener darf hier die Überweisung nur dann aussprechen, wenn er gleichzeitig das Vorhandensein der Voraussetzungen des Paragraphen ausdrücklich festgestellt. (Oppenhof l. c. Note 8.)

Es war daher im Hinblicke auf Art. 145 des Einf.-Ges. zum St.-G.-B. v. J. 1861 wie geschehen zu erkennen.