Ob-Ost/Was wir vom Kriege sahen

Die Reise Ob-Ost
von Fritz Hartmann
Die Etappe
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II. Was wir vom Kriege sahen
Im Schlafwagen zwischen Königsberg und Marienburg, den 28. Oktober.

Nächtlicherweile haben wir wieder die Grenze überschritten. Ich merkte nichts davon. Zum erstenmal hatte sich nämlich der wohltätige Sandmann herbeigelassen, mir auch im Bahnzug Aufwartung zu machen. Ich konnte durchschlafen, da wir als militärischer Transport von der Grenzrevision verschont blieben.

Es ist Sonntag. In der Stadt der reinen Vernunft hörte ich sogar Glocken läuten. Wo wir gewesen, da hatten die Russen sie fortgeschleppt. Ebenso alle Bronzedenkmäler. Ihre Zarin Katharina, ihren Murawiew, den Henker Polens, oder auch ihren Puschkin wird man ihnen für eine einzurichtende Erinnerungs-Puppenallee in Moskau oder Nowgorod oder Kasan neidlos lassen. Die Glocken aber müssen über kurz oder lang ersetzt und die ausgebrochenen Löcher im Turmgemäuer, durch die man sie niedergelassen, wieder geflickt werden. Vorläufig behilft man sich auf urwüchsige [10] Art. Man hat alte Schienen aufgehängt, die mit eisernen Hämmern bearbeitet werden. Das macht Lärm, aber keine Andacht, und jenes durch Goethe unsterblich gemachte Kind, das wollte nie zur Kirche sich bequemen, das kann sich mit Ohrenzwang herausreden.

Nur in solch mittelbarer Weise ist der Krieg uns nahegetreten. Als junge Vergangenheit, nicht als krachende, blutspritzende Gegenwart. Wo wir der Front am nächsten kamen, in der Mitauer Gegend, sind wir ihr immer noch einige Kilometer ferngeblieben. Übrigens ist es ja auch dort im Augenblick ruhig wie im Frieden. Gelegentlich ein Kleines knallen auf einen russischen Erkundungsflieger oder in den Wäldern eine Treibjagd gegen strolchende und wildernde Versprengte – mehr nicht.

Allein, nie kam uns außer Bewußtsein, daß wir auf einem Boden standen, über den vor kleinem erst die Wirbelstürme des Weltkrieges, heute nach links, morgen nach rechts herumgekreist. Viel ist schon getan, die Spuren seines Wahnsinnstanzes zu löschen. Wenn wir so glatt dahinfuhren – waren das wirklich dieselben Strecken, die Hindenburg auf seinem meisterlichen [11] Herbstabmarsch von 1914 – Sachkenner nennen ihn die größte seiner Großtaten – so gründlich unfahrbar gemacht, daß keine Schiene an der anderen geblieben? Nun läuft alles wieder wie daheim. Die Bahnhöfe sind hergestellt und der Beamtenkörper aus dem ganzen Vaterlande zusammengeholt. In demselben Zuge schalten preußische, bayerische, sächsische und schwäbische Schaffneruniformen.

Viel ist getan, mehr bleibt zu tun auf den Frieden verspart. Die Wärterhäuschen geben sich schmucker als vor dem Kriege, allein, dichtbei siehst Du die rauchschwarzen Resttrümmer einer litauischen Bauernkate. Wer sollte sie aufbauen? Die Leute sind entflohen, verschleppt; keiner weiß, wohin. Vielleicht bis auf das – übrigens nie fehlende – Neugeborene herab im Elend verdorben, gestorben.

In den Wäldern wüste Granattrichter und fächerpalmenhaft auseinandergesplitterte Birken. Dazwischen Gräber. Sämtlich aufs sauberste gehalten. Meist in weißrindige Naturgeländer liebevoll gefaßt. Von Ferne sagt schon die andere Kreuzform, ob Freund hier oder Feind für sein Vaterland gefallen. Vielleicht auch eine festgenagelte [12] Russenmütze. Sonst aber kein Unterschied. Nicht der mindeste. Auf deutschen Einzelgräbern steht der Name; die Ruhestätte ist photographiert und den Angehörigen im Bilde gesandt. Wo die Verluste sich häuften, sind Ehrenfriedhöfe eingerichtet. Eine besondere Behörde regelt die Gräberpflege.

Zu Bialowies wohnten wir in des Zaren Jagdschloß. Ein Einstöcker mit viel Dachgegiebel, am Ende der gestreckten Front gleich einem Flügelmann der runde Bergfried mit moskowitischem Doppelaar. Innen mit Ahorn getäfelt, den jugendstilige Brandmalereien rankend verunzieren. Drüber Freskokitsch eines wildgewordenen Böckliners; Waldseenymphen, Faunen, Kentaurenjagden.

Die Deutschen fanden dieses Schloß völlig ausgeräumt, kein Möbelstück war geblieben. Teppiche, Vorhänge, Gobelins, Ölgemälde, alles gründlich „gerettet“. Es fragt sich bloß, ob für den Zaren oder irgendwen sonst zu deutschen Lasten. Aber mehr noch. Der Abschied war augenfällig auf Nimmerwiederschauen gedacht. Denn sogar das schöne, schmiedeeiserne Kunstwerk des Treppengeländers ist beinig geworden. [13] Die Majolikakamine waren zerschlagen, die Leitungsröhren zerhackt. Es hat Wochen gedauert, ehe die Räume wieder bewohnbar wurden. Heute stehen andere Möbel drin, so gut wie die Umgebung sie lieferte. Aber in jedem Raume hängt nach deutscher Dienststubenweise eine säuberliche Ausstattungstafel mit dem Gerätebestand bis zum Nachttopf hinunter.

Von allen besuchten Städten hat Wilna am wenigsten gelitten. Kasernen, Lazarette und öffentliche Gebäude waren jedoch gleichfalls bis auf die nackten Wände geleert. Dafür hatte man sie in der unsagbarsten Weise verschmutzt und verstänkert. Im Erdgeschoß des Stadthauses lag der Pferdedung dreiviertel Meter hoch. Im ersten Stock, für den die Rosse versagten, hatten ihre Reiter das tierische Geschäft übernommen. Heute sind die Räume blitzsauber; einzig der satte Kalk- und Entseuchungsgeruch erinnert an die vorgefundene Schweinerei.

Wilna war als offene Stadt kampflos preisgegeben. Aber frage nur herum; es gibt trotzdem Einwohner genug, denen die Kriegserlebnisse schwer auf der Seele wuchten. Zum Beispiel den evangelischen Pfarrer. Er hat drei [14] Reichsdeutsche und zwei Balten auf dem Gang zum Galgen geleiten müssen. Alle fünf als unschuldige Opfer rachsüchtigen Justizmordes.

Ein fester Stützpunkt des Feindes hingegen war Kowno. Er sollte den Durchbruch der Memelfront hindern. Dazu war er mit einem starrenden Kranz von festen Stellungen umgeben. Außerdem erschwerten unseren Anmarsch Wälder, Sümpfe und Höhen. Endlich als letzter Halt ein starker Fortgürtel. Trotzdem war die Stadt binnen vier Tagen in deutscher Hand. Freilich schlummern auf dem Ehrenfriedhofe wackere Feldgraue dem dermaleinstigen großen Wecken entgegen. Pax vobiscum!

Am vergangenen Mittwoch haben wir die erstürmten Werke beschritten. Von Fort schauten wir in einen kristallenen Herbstmorgen hinein. Hinüber nach dem durch wirre Drahtverhaue gesicherten Dominikanka-Wäldchen, worein das Korps Litzmann sich zuerst einmal die blutige Bahn brach.

Entsinnst Du Dich noch unserer Gänge über die alten Metzer Schlachtfelder? Wie ich mit brennendem Auge und pochender Brust dem einstigen Todesrennen meines ehemaligen Regiments [15] von St. Marie auf St. Privat folgte? Den kahlen Hang hinauf, der jetzt von weißen Kreuzen flimmert? Dann bist Du im Bilde. „Nein, solche Soldaten“ rief Canrobert, als er von oben den Sturm sah. Die Söhne sind der Väter wert. Fast auf die Stunde 45 Jahre später, in der Nacht zum 18. August, haben sie hier ein ähnliches Sprunggelände durchmessen. Ganz ähnlich, nur doppelt so breit. Werk fiel auf Werk. In der Morgenfrühe war auch die zweite Linie unser, am Abend die Stadt. In gemengter Flucht ging der Russe über die Wilja und die Memel zurück.

Unser schweres Geschütz hat’s gemacht. Wir bestaunten die Einschläge. Wir kletterten in den Kratern herum, wie Wichtelmännchen in Rübezahls Berghöhle, standen auf den verwirbelten Mauerntrümmern, gleich Gemsen auf ragendem Felsgrat. Und zerriebener Beton stäubte unsere Stiefel in ein ortsgemäßes Feldgrau ein.

Meist hat schon ein einziger Volltreffer das Schicksal der Fortbesatzung entschieden. Wo er hinhaute, da waren alle Ausgänge, Luftschächte, Brunnen verschüttet. Neulich erst wurde ein russisches Geschütz mit acht Leichen ausgebuddelt. Der Geröllregen des Ausbruchs hatte sie ein [16] volles Jahr verborgen. So ist jedes beschossene Werk ein kleines Herkulanum. Noch immer legt man gefüllte Vorratskasematten bloß. Ein Fort wurde von einer schweren Batterie sturmreif gemacht. Sie schlug binnen kürzester Zeit vier Breschen in die Außenböschung. Nimm den Zollstab und miß; sie sind auf den Strich je zwölfeinhalb Meter voneinander entfernt.

In ausladendem Kreise sind wir um die Stadt gefahren. Abermals mischt sich der Gegenwart die Vergangenheit. So bei Ponjemon an der Jeßja-Mündung. Links die verlassenen russischen Unterstände, rechts der einsiedlerische Napoleonshügel, wo der Korse um Johanni 1812 den Übergang seiner Truppen über die Memel beobachtete. Ungefähr 103 Jahre später überschritt an ungefähr gleicher Stelle, mit ziemlich gleicher Stärke den denkwürdigen Fluß unser Hindenburg. Kannst Dir denken mit welchen Gefühlen ich an diesem Platze stand. Entsinne Dich des ersten Kapitels von meinem Jahrhundertbuche und des Bildchens mit der wuchtigen Marschallsunterschrift in meinem Arbeitszimmer.

Kowno zeigt noch die meisten Kriegsspuren. Der eine von den Doppeltürmen einer katholischen [17] Kirche ist abgeschossen. Aus der Memel ragen die Schornsteinspitzen zweier versenkter Dampfer. Das Bahnhofsviertel ist ein Trümmerfeld.

Auch inmitten der Stadt starren Dich die erloschenen Fensteraugen ausgebrannter Häuser an. Verwaltungsgebäude! Die Russen waren mit deren Einäscherung immer sehr fingerfertig. Es lag manchem manches daran, unbequeme Belege auf faßliche Art für immer zu beseitigen.

Nicht minder haben die Moskowiter in Mitau den Kehraus ihres jüngsten Tages mit der Brandfackel getanzt. Brücken, Kronsgebände, Fabriken wurden hirnwütig gesprengt. Wenn die Feuerwehr kam, haben die Soldaten ihnen das Löschen gewehrt. Die Häuser Deutschgesinnter wurden nächtlicherweile mit roter Farbe angekreuzt. Meist unterblieb jedoch das zugedachte Rache- und Vernichtungswerk. Die Besitzer schrubberten nämlich schleunigst das Kainszeichen wieder ab und stellten gegen das drohende Feuerkommando für alle Fälle ein paar Flaschen hochprozentigen Feuerwassers bereit.

Es war überhaupt ein betrunkener Tag. Polizeimeister Markatun, ein berüchtigter Tschinownik, [18] erbrach die Keller des Schloßgartenrestaurants und feierte mit seinen Zechbrüdern ein Abschiedssektgeschwelge im Stile Peter des Großen. Die Truppen plünderten alle Schnapskneipen und lagen sternhagelvoll auf den Straßen umher. Alles, was man an Zerstörung sieht, ist russische Arbeit. „Max“ und „Germania“, die beiden deutschen Mörser, die vom Markte aus unter dem Jubel der Mitauer dem abziehenden Asien den Abschied boten, haben nur einige Dachpfannen des Stadthauses heruntergepfiffen.

Du siehst, mein lieber Ernst, Kriegslorbeeren habe ich nicht ums Haupt flechten können. Nicht einmal Schlachtenbummler kann ich mich nennen und gegen Dich, den Schlachtenschlager, stehe ich zwergig da. Dieser Brief wäre kaum geschrieben ohne die Annahme, daß Dir, der – übrigens ein seltener Fall – bisher stets an die Westfront gefesselt blieb, der Vergleich mit den Kampfgebieten des Ostens nicht ohne Reiz wäre. Feinde habe ich nur in der unschädlichen Erscheinungsform als Wald-, Feld-, Straßen- und Fabrikarbeiter zu Augen bekommen. Meist Russen. Wenn ihre Schipperkolonnen vorbeigeführt wurden, fiel mir die kalte Gleichgültigkeit [19] der Landesbewohner bei diesem Anblick auf. Keiner weiß wie, aber binnen drei Tagen wußten sie, daß Rumänien den Krieg erklärt hatte. Das machte ihre Haltung selbstbewußter. „Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause.“ Nun ja, irren ist menschlich.