Das Gottesländchen Ob-Ost
von Fritz Hartmann
Rückblick
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XI. Schlüsse
Hannover, den 3. Dezember.

Von Bialystok aus haben wir die kleine deutsche Weberkolonie Suprasl an dem gleichnamigen Nebenflüßchen des Narew besucht. Sie ist jetzt ungefähr hundert Jahre alt. Man sagt, sächsische Soldaten hätten sie gegründet, die bei dem verderblichen Winterrückzug Napoleons dort hängen blieben. Sie fanden besseres Brot als in der Heimat und ließen daher die Frauen nachkommen. Rechtschaffen haben sie ihr Volks- und ihr Luthertum auf Kind und Kindeskind fortgeerbt. Zu innerem Halt, aber äußerem Nachteil. Denn die Männer sind jetzt sämtlich verschleppt. Man erzählte mir, sie hätten ihren Marsch ins Elend angetreten unter dem starkgeistigen Gesang des „Ein feste Burg ist unser Gott“.

Die bekümmerten Frauen aber haben uns freudig empfangen. An ihren reinlichen Häuschen wehten deutsche Fähnchen. Vor der Schule waren die Kinder aufgestellt. Der feldgraue [86] Lehrer an der Spitze. Sie sangen uns das Lied von dem Gott, der Eisen wachsen ließ und keine Knechte wollte. Hell schmetterten die Stimmen hinaus in die sonndurchwärmte Herbstmorgenklarheit. Ein freudiger Willkomm und doch gar ein trauriger! Mir trat die Träne ins Auge, als ich es da hörte:

„Laßt brausen, was nur brausen kann
In hellen lichten Flammen,
Ihr Deutschen alle, Mann für Mann,
Fürs Vaterland zusammen!
Und hebt die Herzen himmelan
Und himmelan die Hände
Und rufet alle Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende!“

Wie viele dieser armen Geschöpfe werden wohl ihren Vater nie wieder sehen! Niemand kann ihnen sagen, wo er ist; ob er noch lebt oder schon namenloser Drangsal erlegen. Es sind Waisen, die den Schutz des siegreichen deutschen Volkes erflehen, zu dem sie auch als russische Untertanen zu gehören nie aufgehört. Sie vertrauen darauf mit fröhlicher Zuversicht. Darf sie zuschanden werden?

Ein kleines Erlebnis nur. Allein es war die erste leise Taste eines Orgelwerks, dessen volle Register uns dann in Kurland wuchtig [87] entgegenbrausien. Dort ein armes, vereinzeltes Weberdörfchen, hier ein hochgemuter Volksstamm, reich an den Gütern des Besitzes und der Bildung. Aber beide darin bewährt, daß sie auf der Grenzwacht in zähem Widerstand deutsche Zunge wie deutsche Sitte rein und lauter erhielten. Von beiden klingt uns der gleiche Ruf entgegen: „Laß uns nicht zerrieben werden zwischen den kreisenden Mühlsteinen dieses Völkerkrieges. Gebt uns, die wir bisher nur ein deutsches Heim besessen, endlich, endlich auch ein deutsches Vaterland?“

Es ist nicht so, wie es 1870 im Elsaß war. Beweglich mußte damals Berthold Auerbach klagen:

„Dort drüben überm Rheine,
Da wohnt ein Bruder mein.
Wie tut’ das Herz mir pressen.
Er hat es schier vergessen,
Was wir einander sein.“

Nein, ganz anders ist’s; ganz anders. Mit offenen Armen hat man uns in Kurland empfangen. In Mitau sagte uns ein einheimischer Begrüßungsredner: „Alle Brücken haben wir hinter uns abgebrochen. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Verlaßt Ihr uns. dann müssen wir [88] mit Euch die Scholle verlassen, die unser war seit der Aufsegelung. Denn wenn die Russen wiederkämen, dann harrte der Galgen unser oder die sibirische Katorga.“

Man sage nicht, die Balten hätten sich ja nicht ums Reich gekümmert, solange es ihnen gut ging. Als es ihnen gut ging, gab es auch doch kein Deutsches Reich und seine Anziehung. Politische Sehnsüchte konnten zu Bundestagszeiten wahrlich nicht aufkommen.

Völklich ist jedoch der Zusammenhang nie gestört gewesen. Stets hat ein reger Dichter- und Forscheraustausch bestanden. Der Chirurg Bergmann, der Chemiker Ostwald, die Theologen Seeberg und Adolf Harnack, dessen Bruder, der Literaturprofessor Otto Harnack, der Geschichtsschreiber Bernhardy, der Kulturforscher Victor Hehn, die Diplomaten von Eckardt und von Heyking sind alle Balten.

Und früher gar! Elise v. d. Recke erwähnte ich schon. Jakob Reinhold Lenz, der Stürmer und Dränger, war livländischer Pastorensohn; der Frankfurter Klinger starb als Kurator von Dorpat. Herder und Hamann haben im Baltikum gewirkt; Kant sollte nach Mitau berufen [89] werden. Seine Werke, die Grundpfeiler der neuen Philosophie, wo erschienen sie? Bei Hartknoch in Riga.

Gewiß gab es auch Balten, die den Blick nach Osten richteten. Mancher Rennenkampf, Sacken, Graf Keller gehört dahin. Aber was besagen Ausnahmen gegen die Regel? Dafür wurden mir auch Balten genannt, die schon in diesem Kriege für Deutschland gefallen sind. Jener Mitauer Redner sprach ein gutes Wort: „Wir waren eine belagerte Festung des Deutschtums. Ihr habt uns entsetzt. Freudig begrüßen wir Euch. Steht es aber dem Entsatzheere an, die Nase zu rümpfen, weil die so hart mitgenommenen Verteidiger keine blankgeputzten Knöpfe haben?“

Wenn die Seele grundtief aufgewühlt ist von Hoffen und Furcht, dann formen sich die Früchte gesteigerten Empfindens von selber. Die Muse naht, die gütige Sänftigerin jeder Lebenswelle. Nicht die Menschen dichten, es fängt in ihnen zu dichten an.

Die „Mitauer Zeitung“ bringt jetzt fast in jeder Nummer poetische Ergüsse aus ihrem Leserkreise. Kinder des herzbewegenden Augenblicks, [90] daher künstelos, aber oft von erschütterndem Gehalte.

„Uns Balten strahlt ein Traumgesicht
Ob dieser blutigen Erden,
Wir aber zittern: Ist es nicht
Zu schön, um wahr zu werden?
Wer weiß, einst webt des Friedens Band
Und wir Balten, wir haben ein Vaterland.“

Eine reichsdeutsche Frau pries sich in gebundener Rede glücklich und stolz, daß ihr Sohn auch mit dabei sein dürfe. Sofort antwortete eine baltische Mutter:

„Wer ist so stolz wie wir in der Welt?“
So sprecht Ihr deutschen Frauen,
Unsere Söhne zogen hinaus ins Feld
Aus allen deutschen Gauen,
Zu siegen, zu sterben, wie Gott es will!
– Ja, Ihr seid tapfer und duldet still.
Ihr tragt es für Eures Landes Ehr’, –
Und dennoch, dennoch, – wir dulden mehr –
Daß Gott uns gnädig sei! –
Unsere Söhne sind nicht dabei!

Unsere Söhne, die führen in Waffen und Wehr
Gegen Euch die feindlichen Horden,
Unsere Söhne, die müssen im Russenheer
Ihre Stammesbrüder morden!
Und während sie opfern ihr ehrlich Blut
verfolgt uns alle hier Haß und Wut!
Alan nimmt uns Ehre und Recht und Sprach’!
Wer rettet uns Balten, wer tilgt die Schmach,
Wer hört unseren Schmerzensschrei:
„Unsere Söhne sind nicht dabei!“

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Ihr seht im Geiste die Sieger schon,
Die lorbeergekrönten Helden,
Ihr hört der jubelnden Glocken Ton,
Die Sieg und Frieden Euch melden!
Oh! – denkt dann an uns auch am Ostseestrand,
Oh denkt an die Mütter im Baltenland,
Die still und weinend von ferne stehen,
Die auch im Geist Eure Söhne sehen,
Die Helden, so stark und so frei –
Und unsere sind nicht dabei!!

Man hat mit eindringlichem Wort unser Empfinden aufgerüttelt in Mitau und Goldingen. Man hat uns angefleht, es nicht zu machen wie Österreich im Jahre 1809. als es Tirol wieder räumte und den treuen Andreas Hofer der Standrechtskugel von Mantua preisgab.

Man hat sich aber auch an unseren Verstand gewandt. Man hat uns vorgerechnet, welche starken Bürgschaften wir jetzt in der Hand haben. Zwar stehen vorläufig noch die kurischen und litauischen Ernteerträgnisse im Verhältnis um ein Drittel gegen die unsrigen zurück: sie übertreffen aber den sonstigen russischen Durchschnitt um die Hälfte. Was läßt sich erzielen, wenn dort erst unter deutschem Regimente die Grundsätze der intensiven Landwirtschaft Platz greifen? Binnen zwanzig Jahren könnten [92] beide Länder so aufgeschlossen sein, daß wir von jeder fremden Zufuhr unabhängig wären. Der englische Traum unserer Aushungerung wäre alsdann für immer ausgeträumt.

Fast ein Viertel des ganzen Grund und Bodens ist russische Kronländerei. Ungerechnet die sogenannten Donationsgüter, die der Zar verdienten Generalen als Erblehen überlassen, bis auf den letzten Mannessproß orthodoxen Glaubens.

Gerade als der Krieg ausbrach, war man in Petersburg drauf und an, auf diesen gewaltigen Domänen russische Binnenbauern anzusetzen. Das wäre das Ende des baltischen Deutschtums gewesen. Die Besiedelung mit deutschen Landwirten jedoch hieße umgekehrt die endgültige Germanisierung des Landes. Zumal die Ritterschaft, einsehend, daß ihr Besitz zu intensiver Wirtschaft zu groß, bereits die Abtretung eines vollen Drittels des sogenannten Hofslandes zu billigen Preisen angeboten hat. Das würde noch weiteres Besiedelungsgelände freimachen.

Die Lettenfrage nehmen die Balten leicht. Zwei Drittel sind verschleppt; viele davon werden [93] fortbleiben. Von den Dagebliebenen sind zwar die Jungletten aufgehetzt, aber mit den Altletten läßt sich auskommen. Überhaupt sind die Leute von Natur Rechnungsträger. Sie schicken ihre Kinder aus Nützlichkeitsgründen lieber in die deutschen Schulen, obwohl lettische da sind. Von jeher haben sie zur Kultur nur mit Hilfe des Deutschtums gelangen können. Der lettische Pastor, der auf seine frommgläubigen Pfarrkinder großen Einfluß hat, kann ja seine protestantische Theologie nur durch die Vorhöfe des deutschen Gymnasiums und der deutschen Hochschule erringen. An unserem Goldinger Abend haben sich ganz unbefangen auch lettische Geistliche beteiligt. So macht schon das Bekenntnis den Vermittler. Als ein Engländer nach einer Reise durch die Ostseeprovinzen einmal gefragt wurde, wie er über die Letten denke, da antwortete er: „Die Leute kleiden sich deutsch, sie essen und trinken deutsch, tanzen deutsch und singen deutsche Choräle. An ihnen ist alles deutsch, ausgenommen die Sprache.“ Aber selbst diese beherrscht jeder lettische Kellner, fast jeder Straßenfeger. Eine neue „Aufsegelung“, die diesmal brächte, was im Mittelalter leider ausblieb, [94] den Bauernstand, würde das lettische Problem sehr rasch lösen.

Es sind mir lehrreiche Tage gewesen, die ich im Gottesländchen verlebte. Und als ich mich von meinem gastfreien Quartierwirt trennte, da floß mir die Zunge über mit dem Abschiedswort:

„Komm Bruder, komm nur her,
Du bist mit Blut erstritten,
Du bleibst in unsrer Mitten,
Wir trennen uns nimmermehr!“