Notschrei einer allzu Braven
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Notschrei einer allzu Braven
Ach, ich geh’ mir selber auf die Nerven,
Weil ich gar so artig bin,
Und voll unentwegter Pflichterfüllung
Steck ich stets in meiner Arbeit drin.
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Niemals tu ich einen Schritt vom Wege,Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh
Meinen Mann ich, und die Leute sagen,
Daß man so was nur begeisternd finden kann[.]
Doch dies ew’ge Schulterklopfen
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Find’ ich unerträglich und gemein,Und ich fleh zum blauen Sommerhimmel:
Herrgott, laß mich einmal anders sein!
Laß mich tolle Kapriolen schlagen,
Laß mich lasterhafte Dinge sagen,
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Laß mit angeklebten WimpernMeine Aeuglein herzlos klimpern,
Laß mich faul auf meinem Diwan liegen
— Und in diesem Zeichen — Herrgott —
Laß mich siegen!
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Niemand kann sich selbst entrinnen,Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm —
Und die andern sind die Schlimmen —
— Wenn ich noch so neidisch bin!
Lili Grün.