Textdaten
Autor: Josef Durm
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Titel: Neujahrsgruß 1908
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Erscheinungsdatum: 1908
Verlag: C. F. Müllersche Hofdruckerei
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Erscheinungsort: Karlsruhe
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Quelle: Digitalisat auf commons, UB Karlsruhe
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Neujahrsgruß 1908

von Dr. Josef Durm, Dr. Ing.

Warum zeichnen und studieren wir Baustile? – Vielleicht etwa zur Stildressur oder um Propaganda für die eine oder andere Weise zu machen? Warum prüfen wir die Konstruktionen, die Art der Ausführung und zugleich die Formensprache der alten Werke? Was zwingt uns in der Baukunst zu allem diesem? Doch wohl nur die gleiche Macht, die den Maler – den »Künstler« κατ’ ἐξοχήν unserer Tage – und den Bildhauer zu verwandtem Tun zwingt, nur daß deren Quellen und Vorbilder andere sind. Wir Architekten müssen uns mit den Stein gewordenen Kunsterzeugnissen vergangener Zeiten beschäftigen und das aus ihnen abziehen, was uns frommt. Und je mehr dies geschieht, um so mehr werden wir befähigt und berufen, von Stufe zu Stufe zu steigen. Bildung und Kenntnisse sind keine Riegel für eine Einlaß begehrende Eigenart. Beschränktes Wissen begünstigt höchstens das Idiotentum, das ist, nach römischer Auslegung des Wortes, die Stümperei und Pfuscherei in Wissenschaft und Kunst. Wir müssen uns durch Vertiefung in die allerhöchsten Gaben, die dem Menschen geworden – Kunst und Wissenschaft –, das Milieu, die Lebensluft gewinnen, in der wir später zu wirken haben. Das alte Lied vom Werden und Vergehen, mit stets wechselnden Melodien, muß von jedem gelernt werden, und welchen Singsang oder Klingklang wir Spätergeborenen daraus machen, das ist Sache der einzelnen, je nach ihrer Begabung, und nicht Sache der Schule, die nur den Weg zu weisen hat, aber nicht den Weg zum täglichen Brot und raschen, möglichst mühelosen Verdienst. Eine vergleichende Baugeschichte wird uns vor Selbstüberhebung schützen und uns die Pfade zeigen, die wir unter veränderter Art des Lebens, der Weltanschauung, der Religion und der Bedürfnisse zu wandeln haben. Das Bedürfnis meistert die Kunst, aus ihm sproßt neues Leben, es erzeugt neue Formen, worunter aber nicht Modefexerei verstanden sein will, der gefährlichste Gegner jeder Kunstentwickelung zu allen Zeiten, der, einem Gourmand gleich, nach stets verfeinerter, abwechslungsreicher Tafel verlangt, um schließlich, wenn alles durchprobiert ist, zur derben Hausmannskost zurückzukehren. Der Bauer kann dabei zeitweilig über den Jäger kommen, wobei wir aber nicht vergessen wollen, daß der Weg zum Hohen und Idealen durch Berg und Tal führt. Wir sehen die Spitze; verlieren wir sie nicht aus den Augen, auch wenn wir beim Blick nach oben zuweilen stolpern sollten. Dem Maler, der sich in seinen Aufgaben dem Gebiete der hohen historischen Kunst bewegt, dem Figuren- und Landschaftsmaler wird sein Studienmaterial von Mutter Natur geboten. Sie gibt sich dem letzteren in ihren Werken auf Bergeshöhen, im Talgrund, im Wald und auf der Heide, auf blumiger Au. Anders zur Frühjahrs- und Sommerzeit, anders im Herbste und im Winter, und wieder anders zu den verschiedenen Tageszeiten, im Sturmesbrausen und im heiteren, vollen Sonnenschein. Er hat in erster Linie nur mit ihr zu rechnen. Was er gibt, muß dort begründet und wahr sein, seine Schöpfung ist das Ergebnis seiner Beobachtungen, »seine Stärke wurzelt in der Anschauung; von dieser braucht, ja soll er sich nicht entfernen«. Zugegeben. [2] Er kann frei wählen, zugreifen, wozu ihn seine Künstlerseele treibt; aber das ist erst Sache eines Späteren, ein Ding nach der Schule, die ihn den Organismus der Pflanzen und Bäume lehrt, die Formation der Felsen, die Bildung der Wolken, die Wirkung der Farben, von Schatten und Licht. Die »Darstellung des Runden auf der Fläche«, auf Papier, Leinwand, Kalkputz oder Holz ist ein technisches Verfahren, das gelernt sein will und das dem Abschreiben der Natur oder der freien Komposition in gleicher Weise vorausgehen muß. Das Handwerk bildet die Grundlage. Der Maler muß mit seinem Arbeitsmaterial aufs innigste vertraut werden, dessen Wiedergabe beherrschen, will er in voller künstlerischer Freiheit schalten und walten. Wo und auf welche Weise er diese Vorbedingungen erfüllt hat, ist gleichgültig und seine Sache wie auch die entsprechende Verwertung. Die technische und geistige Schulung ist noch keinem erspart geblieben, dem einen mehr, dem anderen weniger, je nachdem, was unser Herrgott dazugegeben.

Das gleiche spielt sich beim Figurenmaler ab, bei dem das Ebenbild Gottes zunächst das wichtigste Studienmaterial bildet. Auch ihm bietet die Natur die volle Brust. Kind, Jüngling, Mann und Weib in ihrer Vollkraft, Greis und Greisin muß er in der äußeren Erscheinung studieren, aber auch das Knochengerüste, das Innere des Menschen muß er in den Kreis seiner Beobachtungen ziehen. Die Kunst der Darstellung stellt hier größere Anforderungen, und wohl die größten bei Bildhauer wie auch das höchste Maß wissenschaftlicher Bildung, ein hochentwickeltes technisches Können bei feinster Beobachtungsgabe. Eine Verantwortlichkeit für Späteres kann der freien Schule auch hier nicht aufgebürdet werden. Die Mittel, den Zweck zu erreichen, sind nicht stets die gleichen. Selbstunterricht, Privatunterricht und öffentliche Schule sind die möglichen Wege. Der erste ist nur für bestimmte, von der Natur besonders ausgestattete Naturen, die beiden anderen sind ausgetretene Pfade, die von der Mehrzahl der Berufenen, aber nicht Auserwählten gewählt zu werden pflegen. Auch sie werden einst der vermeintlichen Fesseln ledig und »endlich Freiheit« rufen, die schließlich doch nichts anderes wird »als ein dunkles triebmäßiges Umhertasten«.

Gute Facherziehung und allgemeine Bildung werden sie vor manchem bewahren und waren der Originalität eines Künstlers noch nie hinderlich, wenn auch »Meier-Gräfe« meint: »Künstler haben das Recht, Idioten zu sein, ja sie sind es sich schuldig.« Meinethalben, aber Idiotenkunst für Idioten! – Sind Maler und Bildhauer in der glücklichen Lage, schon in der Schulzeit aus der Natur unmittelbar schöpfen zu können, wo jeder seiner eigenen Auffassung und der ihm gut dünkenden Technik nachleben kann, nicht an die Mal- oder Darstellungsweise irgend eines aufgedrungenen oder frei gewählten Meisters gebunden – und wenn er das Gegenteil tut, dies mit sich selbst abzumachen hat –, so ist der Architekt, wie schon gesagt, auf Werke von Menschengeist und Menschenhand angewiesen. Sie sind ihm die Elemente seiner Erziehung und künstlerischen Bildung. Wie der Maler das, was ihm die Erde in ihrem Wechsel bietet, der Bildhauer die menschliche Gestalt vom Werden bis zum Vergehen in den Kreis seiner künstlerischen Tätigkeit einbezieht und dementsprechend seine vorbereitenden Studien einleitet, nicht am einzelnen [3] haften bleibt, jene vielmehr allumfassend betreibt, vom Spezialitätendrill nicht angekränkelt, so müssen auch die Architekten erkennen, daß in dem Studium der historischen Baustile in erster Linie nur allgemeine Mittel, zwecks einer höheren baukünstlerischen Bildung vorgesehen sind. Dabei sind die beiden einzigen, organisch und logisch entwickelten ehrlichen, für die Ewigkeit geschaffenen, in ihren Grundprinzipien unerschütterlichen Stile: der ägyptisch-griechische und der mittelalterlich-gotische in erste Linie zu stellen. Nur an ihnen ist das Wesen eines Baustiles, seine Konstruktionsweise und seine Auszierung klar zum Ausdruck gebracht. »Stile entstehen aus Konstruktionsprinzipien und konsequenter Ausbildung gleichartiger Schmuckformen.« Im einen Fall werden Wände, Pfeiler und Säulen mit wagerechter Decke geboten, im anderen die gleichen raumbegrenzenden und stützenden Elemente mit gewölbter Decke. Dort senkrechter Druck und Kraft der diesem entgegenwirkenden Stützen, hier Schub und Druck der Gewölbe mit den diesen entgegenwirkenden Anordnungen. Sie sind für den Architekten, was für Maler und Bildhauer der Organismus der Pflanzen- und Gesteinswelt, das Knochengerüste des Wirbeltieres ist. Ihr Studium führt zur Erkenntnis und regt zu Neuem an.

In die zweite Linie erst ist die Auszierung zu setzen. Hier beginnt das Spiel der Form in der Natur mit seiner unendlichen Mannigfaltigkeit. Jeder Baum besteht aus Wurzel, Stamm und Ästen mit Laubwerk, schmückenden Blüten und Früchten, ist nach den gleichen Gesetzen aufgebaut, und doch unterscheiden wir Eichen und Linden, Tannen und Fichten usw. Die Berge sind aus den verschiedensten Gesteinsarten geschichtet, die Menschen nach verschiedenen Rassen geartet. Pflanzen- und Tierwelt in ihrer tausendfältigen Gestaltung ziehen Maler und Bildhauer in den Kreis ihres Studiums und Schaffens; sie zeichnen, malen und machen danach plastische Darstellungen. In gleicher Weise müssen auch die Architekten mit ihrem Studienmaterial verfahren, und zwar in der ersten Zeit noch ohne Bevorzugung der einen oder anderen Weise, denn diese kann erst erfolgen, wenn alles durchgeprüft ist und bei ausgereiftem Urteil. Ein solches kann aber nur gebildet werden durch Zeichnen, Messen und Vertiefung in den Gegenstand, gleichwie es unsere Schwesterkünstler in ihrer Domäne tun. Wo dort der unmittelbare Verkehr mit der Natur, mit dem Objekt, noch nicht angängig ist oder aus anderen Gründen nicht herbeigeführt werden kann, greift man beim Unterweisen zum Kopieren nach guten Vorlagen und Modellen, und zur Erlernung des Handwerkes, der fachlichen Geschicklichkeit flüchtet man zum Lehrmeister und Gesellen. Die Barbarei des modernen Massenunterrichts läßt meist keinen anderen Ausweg offen. Die Architekten sind gezwungen, dasselbe zu tun, obgleich das Studium an den Vorbildern selbst das einzig erfolgreiche und richtige ist. Nur liegen die Dinge für die Genannten oft recht weit auseinander, während sie den Schwesterkünstlern auf Schritt und Tritt begegnen.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter – Kind, Jüngling, Mann und Greis zeigt nicht allein das Studienmaterial der Maler und Bildhauer, bei den für uns von Menschenhand geschaffenen Vorbildern äußert sich dies als Frühkunst, Blütezeit und Verfall einer Bauweise. Wie der Baum sich im Frühjahr mit einem überreichen Blumenzauber schmückt, dem ein Stadium der Ruhe und Einfachheit im Sommer, dann ein solches mit der [4] goldenen, reifen Frucht im Herbste folgt, dem durch die Entlaubung im Winter ein Bild der Sterilität gegeben wird, so schmückt sich auch jede junge Architektur bräutlich und tritt werbend für sich auf, um nach der Entfaltung ihrer Reize in Starrsucht zu vergehen, aus der sie kein Wiederbelebungsversuch mehr erlösen kann. Was der Natur und Kunst seinen Tribut bezahlt, erscheint für uns wohl verloren, aber nicht erloschen, es kehrt unter veränderter Form wieder. Der Satz: daß wir auch, wie der Anatom, am Toten noch lernen können, oft mehr als am Lebenden, wird bestehen bleiben.

Deshalb das Studium der alten Stile, nicht um Äußerlichkeiten nachäffen, nein, um ihr Wesen zu ergründen und daraus folgerichtige Schlüsse ziehen zu können.

Ein letztes, das für deren Studium noch spricht, ist die Pflicht einer sachgemäßen Erhaltung und Unterhaltung der uns überkommenen Werke der Väter, damit wir sie in verkehrtem Tatendrang nicht verstümmeln und keinerlei Ungereimtheiten begehen. Und wenn Ruskin sagt, daß jede Restauration eines Bauwerkes eine Lüge sei, so mag dies wohl sein, unanfechtbar aber scheint mir der Satz Carl Schefflers: »Die Ruine regt die Vorstellungskraft an, ruft die dichtende und rekonstruierende Phantasie wach; das künstlich restaurierte Gebäude aber schlägt jede Phantasietätigkeit tot und weiß statt dessen doch nichts zu geben als die Phrase (Freiburg, Heidelberg, Hohkönigsburg).«

Nach alledem wollen wir doch nicht vergessen, daß auch die Natur dem verständigen Gärtner Beihilfe zu Neuem leistet, solange er nicht gegen deren Grundgesetze verstößt.

So ist z. B. das ganze Geschlecht der Aurantiaceen zur Abweichung sehr geneigt, und Örtlichkeit, Impfung und Behandlung haben unzählige Spielarten hervorgebracht. Solche künstlich zu erzeugen, war sonst der Stolz der Gärtner, wie Victor Hehn in seinem interessanten Buch über Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa (vgl. S. 390 a. a. O. Ausgabe 1874) uns lehrt. Unsere Kultur und Kunst nimmt den gleichen Weg. Doch welcher Gartenbaum könnte der Orange an Schönheit und Adel den Rang streitig machen, der das ganze Jahr hindurch prangt gleichzeitig mit Blüten, mit unreifen und reifen Früchten, die bald dickschalig und saftlos, sauer und bitter sind, dann wieder honigsüß, dessen Blüten einen berauschenden Duft abgeben, der selbst ein Alter von 700 Jahren und noch mehr erreicht, der so stark wird, daß ein Mann ihn kaum umspannen kann, und dessen Krone so majestätisch wie die einer Eiche in die Lüfte ragt, der in der freien Natur die bei uns gewohnte steife Kugelform verliert, dessen Äste sich strecken und recken nach allen Seiten, in dessen Krone die goldenen Äpfel und die silbernen Blüten leuchten? (Orangengärten in Milis auf Sardinien.) Süße Pomeranzen, Limonen, Zitronen, Orangen, Apfelsinen oder Portogali und als neueste Varietät des XIX. Jahrhunderts die Mandarinen gibt uns nacheinander der Urbaum! Könnte ein besseres Symbol für die Baukunst und ihre Entwickelung genommen werden?

Die Natur gibt uns Holz, Stein und Eisen, der Architekt schafft daraus ein Kunstwerk, das der Zeit trotzt und Jahrtausende überdauert, mit Blüten und Früchten geschmückt der verschiedensten Art »je nach Örtlichkeit, Impfung und Behandlung«. [5] Der geschickte Gärtner gibt unter Anwendung der gleichen Mittel aus den immergrünen Zweigen der Agrumi[WS 1] die köstlichste Frucht – die süße Goldorange! Ihr Stamm hat seine Natur nicht verändert, er wächst wie früher nach ewigen Naturgesetzen empor, aber seine Früchte sind andere geworden. Aus dickschaligen herben sind schöne köstliche, goldene Äpfel gezeitigt durch Menschenhand – und Verstand.

Die Grundelemente und die Gesetze der Baukunst von Druck und Schub sind ebenfalls unverändert, nur Form und Ausdrucksweise sind anders geworden, und der Baukunst geht es wie den Aurantiaceen. Ein glücklicher, verständiger Künstler wird aus den alten Monumenten ebenso köstliche neue Früchte hervorlocken wie der Gärtner aus dem Urstamme der Agrumi – aber nicht mit pedantischer, geistloser Stilreiterei.

Pflegen und hegen wir daher deren Studium, damit wir den Zusammenhang nicht verlieren und nicht in Willkürlichkeiten untergehen. Beherzigen wir die Worte unseres Altmeisters Dr. Heinrich Hübsch: »daß sich die Architektur nicht von gestern her gestalten könne, daß sie vielmehr bei den Blüteperioden der Vorzeit in die Schule gehen müsse. Um daher einen gesunden, richtigen Standpunkt für eine der Gegenwart entsprechende Architektur zu gewinnen, ist ein historischer Überblick der verschiedenen hinter uns liegenden Bauarten unerläßlich. Und wenn es gelingt, die objektiveren Eigenschaften einer jeden Bauart unmittelbar an den Monumenten aufzufinden und unbefangen zu vergleichen, so werden wir daran einen sicheren zweitausendjährigen Wegweiser haben.«


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Zitrusfrüchte