Neujahr!
Neujahr!
Sylvester-Nacht – vom Haupt zum Grunde
Der Thurm erdröhnt, die Glocke schlug;
Das Jahr verhaucht die letzte Stunde,
Die Zeit that einen Athemzug.
Da taucht der Geist vergang’ner Tage
Aus Nacht und Dämmer mir empor;
Das eigne Leben, gleich der Sage,
Umwebt ein träumerischer Flor.
Erinn’rung spricht mit leisem Munde
Und blickt ins Herz mir ernst und tief
Und jede gut’ und böse Stunde
Wacht auf, die halbvergessen schlief.
Geliebte Stimmen reden wieder,
Die Grabesschweigen längst bedeckt;
Ersehnte Augen blicken nieder,
Die mir kein Morgen mehr erweckt.
So manche Wunde voller Schmerzen
Bricht wieder auf, die halb vernarbt;
Ihr Jugendträume – meinem Herzen
Gespielen einst, ihr gingt und starbt!
Und dieses Herz, wo Well’ auf Welle
Sich sprudelnd hob in Schaffenshast –
Enttäuschung trat auf seine Schwelle,
Der graue Kälte Wintergast.
Da horch - was naht sich leise, leise?
Was dringt ans Herz mir sanft und warm?
O süßer Ton, vertraute Weise -
Im Busen schwillt mir Lust und Harm.
Ich blick’ hinweg, um nicht zu sehen,
Und dennoch reißt’s den Blick mir hin –
Seh ich dich wieder vor mir stehen,
Holdselige Bethörerin?
Liebreizend, so wie die Geliebte,
Als ich sie sah zum erstenmal –
O Hoffnung, die mich oft betrübte,
Kommst du zu neuer Täuschung Qual?
Dies Kindeslächeln, ist es Wahrheit,
Das um die süßen Lippen schwebt?
Und ist es der Verheißung Klarheit,
Dies Licht, das so dein Haupt umwebt?
Kommst du in heil’gem Liebesdrange,
Wenn du zur Menschheit niederschwebst?
Ach, oder bist du nur die Schlange,
Die du vom Blut der Herzen lebst?
Heut endlich sollst du Antwort geben,
Denn blindlings folg’ ich länger nicht
Da seh’ ich sie das Auge heben;
Im Auge schwimmt’s wie Thränenlicht:
„Willst mein Geheimniß du erzwingen?
Es giebt auch Räthsel ohne Trug –
Du frage nicht, was Götter bringen;
Wenn Götter kommen, ist’s genug.“
Ernst v. Wildenbruch.