Mont St. Michel, an der Normännischen Küste

LII. New-Castle an der Tyne Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LIII. Mont St. Michel, an der Normännischen Küste
LIV. Elephanta, Haupteingang zum großen unterirdischen Tempel
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MONT S MICHEL

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LIII. Mont St. Michel,
an der Normännischen Küste.




Auf dem Wege von Caen nach St. Malo liegt die kleine Stadt Avranches. Wenn man die Anhöhe erreicht hat, auf deren Rücken sie gebaut ist, überrascht eine der seltsamsten Landschaften das Auge. Dem Meere zu zeigt sich eine weite Sandebene, von zahlreichen, langsam hinschleichenden Flüssen bewässert, im Halbkreise schimmert der Ozean und am äußersten Horizonte hebt sich ein Felsencoloß einsam aus den Fluthen, der sein thurmgekröntes 600 Fuß hohes Haupt ernst und unheimlich, wie ein ungeheures Riesengespenst, in die Wolken streckt. Diese wunderbare Landschaft besteht aus den Marschen und der Bay von Cancale, der Felsen mit seinen Zinnen und Kuppeln aber ist Mont St. Michel, gleich berühmt als ein Sitz des Baals und des Jupiter, als heiliger Wallfahrtsort, als Kloster und als Festung; jetzt aber berüchtigt als ein grauenvolles Staatsgefängniß.

Die Frühgeschichte der Normandie erwähnt dieses merkwürdigen Orts als MONS BELINUS, den Berg des Baals, die geheiligte Wohnung der Druiden. Die Spitze des Felsens hatte damals die Form eines Altars und von ihm rauchten Menschenopfer den erzürnten Göttern. Als zur Zeit des Tiberius die Völker der gallischen Nordküste unter’s Joch der Römer kamen, verloren jene mit ihrer Freiheit auch ihren Kultus; MONS BELINUS, ihr Hauptsitz, wurde erstürmt und das Blut der letzten Druiden strömte auf dem hohen Altar und in dessen Vertheidigung, dahin. Ein Tempel des Jupiter wölbte sich darauf über die geweihete Stelle. Aber lange thronte auch der neue Gott hier nicht. Als das berühmte Edikt Kaiser Constantin’s (313) allen Völkern des römischen Weltreichs Glaubens- und Gewissensfreiheit schenkte, und nun Jeder den Schöpfer und Erhalter des Weltalls in seiner eigenen, frei gewählten, [19] oder angestammten Weise und Form verehren durfte, gaben die Bewohner dieser Gegend den verhaßten Römergottesdienst auf, und erfaßten mit Eifer die christliche Lehre. Sie vertrieben die Priester und stürzten den Tempel in Trümmern. Statt jener ließen sich fromme, christliche Einsiedler auf dem einsamen Felsen nieder und aus dem Gestein des Tempels bauten sie eine kleine, dem Erzengel Michael geweihte Kapelle. Der im Volke festgewurzelte Ruf der Heiligkeit des Orts machte dieses kleine Gotteshaus bald zum Ziel der Wallfahrer aus den Christenvölkern, nah und fern und von Opfern und Gaben aller Art erwuchs dem Kirchlein im Lauf der Jahrhunderte ein großer Schatz. Da soll dem Hüter desselben, dem heiligen Aubert, Bischof von Avranches, in der ersten Stunde des achten Jahrhunderts der Erzengel erschienen seyn und ihm befohlen haben, daß er statt des bescheidenen Hüttchens ein prachtvolles Gotteshaus baue. Es thürmten sich nun auf der Stelle des Kapellchens die Pfeiler und Gewölbe der schönsten Kirche. Die Höhlen der Anachoreten wurden zu den Wein-Kellern der neuen Abtei eingerichtet und die hageren, sich kasteyenden Einsiedler verwandelten sich in prassende, fette Mönche. In späterer Zeit, als die Normandie der Kampfapfel zwischen den Engländern und Franzosen wurde und die Partheien die wichtige, feste Lage des Orts erkannten, versetzte man die Mönche und das Kloster wurde Festung, die bald den Ruf der Unbezwinglichkeit erhielt. 1423 stürmte ein brittisches, 15,000 Mann starkes Belagerungsheer acht Tage lang diesen einsamen, durch eine Handvoll Franzosen vertheidigten Felsen, die sich mit dem Gestein ihrer Mauern und mit Felsenblöcken heldenmüthig, wie einst die letzten Römer auf dem Grabmal des Imperators, aber glücklicher, als diese, vertheidigten; denn nachdem die Engländer 2000 ihrer Krieger verloren und als das stürmische Meer ihre Werke zertrümmerte und ihre Flotte zerstreute, zogen sie ab. Zum Andenken dieser glücklichen Abwehr, deren Erfolg der Aberglaube jener finstern Zeit dem unmittelbaren Beistande des Himmelsfeldherrn zurechnete, stiftete Ludwig XI. den Orden des heiligen Michael’s, noch jetzt einer der höchsten Frankreichs. – Die neuere Kriegskunst hat dem Platz seine frühere Wichtigkeit genommen, und unsere gefängnißgierige Zeit, die überall die Vesten des Landes in Kerker der Bürger verwandelt, – sie hat auch Mont St. Michel zu einem solchen gemacht. In den Kasematten schmachtet jetzt der für bürgerliche Freiheit Begeisterte in Ketten und in den tieferen Verließen, in den fürchterlichen Oubliettes, stirbt der Republikaner den schaudervollsten Tod. –

Unser Bild (ein Meisterstück der Stahlstecherkunst) gibt die Ansicht des merkwürdigen Ortes zur Zeit der Ebbe, wenn die flüchtigen Wogen den Meerboden verlassen haben. Dann ist eine Landverbindung mit der Küste herzustellen, die jedoch, wegen der so bald wiederkehrenden Fluth, nur mit Lebensgefahr benutzt werden kann.