Melpomene/Band 2/099 Die Eitelkeit
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99. Die Eitelkeit.
Melod. XX.
1. O Eitelkeit der Eitelkeiten!
Und Alles ist voll Eitelkeit.
2. So sang der weise Mann vor Zeiten,
So singt ein Weiser allezeit. –
3. Was ist die Welt mit ihren Freuden?
Ein kurzer Schlaf, ein eitler Traum;
4. Bald müssen wir von Allem scheiden,
Und selbst der Weise glaubt es kaum.
5. Von der Geburt zum offnen Grabe
Ist nur ein kurzer schneller Schritt;
6. Schon wankt der Greis an seinem Stabe
Der kürzlich noch den Stecken ritt.
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7. Was ist Gesundheit, Gelt und Ehre,
Vermögen Macht und Herrlichkeit?
8. Ach alles dieß versinkt im Meere
Der unumschränkten Eitelkeit.
9. Was nützt ein aufgethürmter Haufen
Von Gold, wenn uns der Tod befällt?
10. Nur einen Augenblick zu kaufen
Ist dann zu arm die ganze Welt.
11. Was ist der höchste Thron der Ehre?
Ein schwaches Rohr, ein morscher Stab;
12. Es steht am bodenlosen Meere
Der Eitelkeit, und stürzt hinab.
13. Was sind die irdischen Vergnügen,
Die uns Vernunft und Gott erlaubt?
14. O seht, wie sie so schnell verfliegen,
Und Zeit und Tod uns alle raubt.
15. Was sind erst die verbothnen Freuden,
Als ein verdekter süsser Schmerz?
16. Denn ach! sie übergehen in Leiden,
Und täuschen so das Menschen Herz.
17. Da fliegt ein Jüngling wonnetrunken
Im frohen Reihetanz dahin,
18. Und ganz in blinde Lieb versunken
Besiegt die Macht der Wohllust ihn:
19. Doch izt vergeht vor seinem Herzen
Das Zauberspiel der falschen Lust.
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20. Nun wüthen Scham und Reu und Schmerzen
In seiner sonst so heitern Brust.
21. Und wie! wenn sich in langen Zügen
Ein Mensch und Christ zum Thiere sauft!
22. O welch ein rasendes Vergnügen,
Das man um seine Menschheit kauft! –
23. So ist nun die verbothne Freude
Für unsre Ruhe wahres Gift,
24. Ein Pfeil, der unser Eingeweide
Durchwühlt, und unsre Seele trift.
25. Und dennoch nehmen sie sehr viele
Verblendete Gemüther ein,
26. Verleiten sie von ihrem Ziele,
Und täuschen sie durch Trug und Schein.
27. Ja Mancher bringt sein ganzes Leben
In diesem Freudentaumel zu;
28. Doch alle diese Freuden geben
Ihm keine wahre Seelenruh.
29. Denn heimlich predigt sein Gewissen
Ihm öfter seine Thorheit vor,
30. Bei dessen aufgewekten Bissen
Er seine falsche Ruh verlohr.
31. Und wenn der Tod mit starken Armen
Die mörderische Sense schwingt,
32. Und ohne Gnade und Erbarmen
Ihn Alles zu verlassen zwingt;
33. Wo bleiben dann die süssen Freuden,
Die er genoß in dieser Zeit?
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34. Er muß getäuscht von ihnen scheiden;
Denn alle sind nur Eitelkeit:
35. Und ach! an ihre Stelle tretten
Verzweiflung, Schmerzen, Gram und Wuth,
36. Und seiner Leiden schwere Ketten
Bricht ewig nicht der Hölle Glut. –
37. Wohin soll alles Dieses führen??
Zur christlichen Entschlossenheit:
38. Hier Alles gerne zu verliehren;
Denn Alles ist nur Eitelkeit.
39. Wir wollen also gern verzichten
Auf alle Güter dieser Zeit
40. Und unverwandt die Augen richten
Auf jene in der Ewigkeit.