Melpomene/Band 2/074 Bei dem Grabe eines achtzigjährigen Greisen

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aus: Melpomene
Seite: Band 2, S. 193–194
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[193]

74. Bei dem Grabe eines achtzigjährigen Greisen.

Melod. IV.

1. Das Grab ist öd und stille,
Und schauervoll sein Rand,
Es deckt mit schwarzer Hülle
Ein unbekanntes Land.

2. Das Lied der Nachtigallen
Tönnt nicht in seinem Schoos
Des Freundes Thränen fallen
Nur auf des Hügels Moos.

3. Verlassne Bräute ringen
Umsonst die Hände wund,
Der Waisen Klagen dringen
Nicht in den tiefen Grund.

4. Doch sonst an keinem Orte
Wohnt die ersehnte Ruh;
Nur durch die Todes Porte
Geht man der Heimath zu.

5. Des Menschen Herz, hienieden
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Erst, wo es nicht mehr schlägt.

6. Dies hat gewiß erfahren
Der tugendhafte Greis,
Der erst nach achtzig Jahren
Vollendet seine Reis.

[194] 7. Denn nie hat er hienieden
Gefunden Ruh und Glück;
Dieß ward ihm erst beschieden
Im letzten Augenblick.

8. Laßt uns daher beständig
Zum Tod bereitet seyn,
Und unser Herz lebendig
Der wahren Tugend weihn.

9. Dann schließt die Hand des Todes
Hienieden unsern Lauf,
Doch dort im Reiche Gottes
Das Thor des Himmels auf.