Melpomene/Band 1/073 Bei dem Grabe einer alten Jungfrau

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aus: Melpomene
Seite: Band 1, S. 232–234
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[232]

73. Bei dem Grabe einer alten Jungfrau.

Melod. IV.

1. Hier schlummert Jungfrau Schedler
Viktoria im Grab,
Die sich dem Herrn mit edler
Aufopferung ergab.

2. Sie brachte zwar ihr Leben
Auf drei und siebenzig,
Doch viele Jahre geben
Dem Tode nur den Sieg.
[233]
3. Was nützen viele Jahre
Wenn sie verschwunden sind?
Der Greis gleicht in der Bahre
Dem todtgebornen Kind.

4. Mit jeder Stunde kommen
Dem Tode näher wir;
Die Sünder wie die Frommen,
Sie müssen fort von hier.

5. Wer dieses recht betrachtet,
Und tief zu Herzen fasst,
Wird weise, und verachtet
Die Welt, die ihn verlasst.

6. Er strebet nur nach Tugend
Und Heiligkeit, und weiht
Das Alter wie die Jugend
Der wahren Frömmigkeit.

7. So sorgte unsre Schwester
Stets für ihr Seelenheil,
Und Tugend war ihr beßter,
Und auserwählter Theil.

8. Mit Heldenmuth bekämpfte
Sie jede böse Lust,
Und Gottes Liebe dämpfte
Den Reiz in ihrer Brust.

9. Sie war nicht ohne Sünde
Nicht ohne Leidenschaft,
Denn wer hat nie die blinde
Begierde hingerafft?
[234]
10. Doch brachte sie die Gabe
Erhaltner Jungfrauschaft
Noch unverlezt zu Grabe,
Gestärkt von Gottes Kraft.

11. So wallte sie hieniden,
Mit ihrem niedern Stand
Und Schicksal wohl zufrieden,
Bis an des Grabes Rand.

12. Geschwollne Füsse schleppte
Sie lange Zeit umher,
Ihr Herz im Leibe bebte,
Ihr Athem wurde schwer.

13. So nahm in ihrem Herzen,
Das Übel überhand,
Bis ohne grosse Schmerzen
Ihr Lebenshauch verschwand.

14. Doch starb sie vorbereitet
Durchs wahre Osterlamm,
Und Gottes Sohn begleitet
Sie nun als Bräutigam.