Max von Pettenkofer (Die Gartenlaube 1898/27)
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Max von Pettenkofer.
Die leidige Wahrheit, daß niemand Prophet in seinem Vaterlande sein könne, läßt doch manchmal Ausnahmen zu. Eine solche schöne, glückliche Ausnahme ist Max von Pettenkofer, der in diesen Tagen sein achtzigstes Lebensjahr vollendet hat, in ungebrochener geistiger und körperlicher Kraft, geschmückt mit allen Ehren, welche Heimat und Fremde einem hochberühmten Gelehrten, einem rastlosen Bahnbrecher auf dem Pfade des menschlichen Fortschritts zu verleihen vermögen.
Wo die schwäbisch-bayrische Hochebene zur Donau sich abdacht, in der Nähe des Städtchens Neuburg, liegt ein einsames Gehöft Namens Lichtenheim. Ehedem war hier eine Zollstation zwischen den herzoglich neuburgischen und den kurbayrischen Landen; und auf ihr saß Pettenkofers Großvater als Zollbeamter. Als mit der Einverleibung Neuburgs in Bayern die Zollschranken fielen, kaufte der Großvater das Zollhaus vom Staate und gestaltete es zu einem landwirtschaftlichen Besitztum. Die Ackergründe dazu sollte das Donaumoos liefern, eine meilenweite Oedung, die den Lauf der Donau in Bayern auf lange Strecken hin begleitet. Es ist eine freudlose Gegend, das Donaumoos: einsame Moorlandschaft, von fernen finstern Wäldern gesäumt, mit seltenen Städten und Dörfern.
Hier wirtschaftete als Kolonist Pettenkofers Vater, Johann Baptist, im Schweiße seines Angesichts, um dem kargen Moorboden die Ernten abzugewinnen, die nötig waren, wenn er seine acht Kinder großziehen wollte. Johann Baptist aber hatte einen älteren Bruder, den Dr. Xaver Pettenkofer. Diesem war es bestimmt, entscheidend in das Leben des jungen Max Pettenkofer einzugreifen. Onkel Xaver, der in jungen Jahren als Feldapotheker den unglücklichen Zug der bayrischen Armee nach Rußland begleitet hatte und einer der wenigen gewesen war, die aus den Eisfeldern an der Moskwa zurückkehren durften, war 1823 Leiter der königlichen Hofapotheke in München geworden. Als kinderloser Mann nahm er nach und nach vier von den Kindern Johann Baptists in sein Haus, um ihnen den Weg durchs Leben zu erleichtern.
So kam auch der junge Max Pettenkofer, der am 3. Dez. 1818 zu Lichtenheim geboren worden war, in seinem achten Lebensjahre aus dem einsamen Donaumoose nach München, wo er zuerst die deutsche Schule und dann das Gymnasium besuchte. Längere Zeit blieb es ziemlich unentschieden, welche Laufbahn der junge Mann einschlagen sollte. Während er selber der Philologie zugeneigt war, wünschte Onkel Xaver, daß er sich den Naturwissenschaften und der Pharmacie zuwenden solle. Konnte doch da der Lebensweg des jungen Pettenkofer am leichtesten geebnet werden und der Oheim einen hoffnungsvollen und tüchtigen Nachfolger sich heranziehen. So trieb er denn an der Universität zumeist Naturwissenschaft und trat hernach als Lehrling in die Hausapotheke ein.
In diese Lehre fällt ein eigentümliches Ereignis. Der junge Apotheker ward es plötzlich überdrüssig, sich seinen Lebenspfad vollständig von einem wenn auch gütigen, doch immerhin recht strengen und eigenwilligen Oheim vorzeichnen zu lassen. Hart neben der königlichen Hofapotheke erhebt sich der Prachtbau des Münchner Hoftheaters; und mancher Abend, den Max in der seinem pharmaceutischen Laboratorium so völlig fremden Welt der dramatischen Muse verleben durfte, reifte einen Entschluß in ihm, den kaum jemand erwarten konnte. Er verließ die Apotheke, um sich der Bühne zu widmen.
Es war seine Sturm- und Drangperiode. Der tolle Streich seines Lebens. Daß dieser Streich nicht imstande war, der Wissenschaft eine so glänzende Kraft für immer zu entfremden: dafür sorgte ein liebenswertes Mädchen, Pettenkofers Cousine Helene. In herzlicher Zuneigung wußte sie ihn wieder auf den ernsteren Weg der Wissenschaft zurückzuleiten. Nach einem halben Jahre kehrte er zu seinem Oheim zurück, mit Freuden wieder aufgenommen. Rückhaltlos warf er sich wieder auf die pharmaceutischen Studien und erhielt im Jahre 1843 nicht bloß seine Approbation als Apotheker, sondern auch nach einer ausgezeichneten Prüfung das Diplom als Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe.
Damals lehrten an der Münchner Universität der Mineraloge J. N. v. Fuchs und der Chemiker und Technologe C. Kaiser. Ihrer Anregung ist es wohl zum Teil zu verdanken, daß Pettenkofer den Entschluß faßte, sich für das akademische Lehramt vorzubereiten. Die Universität Würzburg, deren medizinische Fakultät damals fast unerreicht stand, hatte einen Schüler Liebigs, Scherer, berufen mit der Aufgabe, chemische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken zu machen. In dessen Laboratorium zu Würzburg arbeitete Pettenkofer sich ein Semester lang in diese Untersuchungen ein; dann aber wandte er sich gleich nach Gießen, um auch in Justus Liebigs Laboratorium zu lernen.
Hier betrat er einen Boden, auf dem das regste und erfolgreichste Streben naturwissenschaftlicher Forschung sich rührte. Er fand begeisternde Anregung und befreundete sich mit den Assistenten Liebigs, mit H. Will, H. Kopp, R. Fresenius; auch mit A. Bardeleben, dem Assistenten Bischoffs – Leuten, die später alle berühmte Männer wurden.
Im Herbste 1844 kehrte er nach München zurück. Man war unterdes auf ihn aufmerksam geworden. Der Obermedizinalausschuß beantragte beim Ministerium, für Pettenkofer, der mittlerweile schon einige glückliche Entdeckungen auf dem Gebiete der medizinischen Chemie gemacht hatte, eine älmliche Stellung an der Münchner Universität zu schaffen, wie sie Scherer in Würzburg bekleidete. Der Leiter des damaligen Ministeriums, v. Abel, hatte jedoch zu wenig Verständnis für Fortschritt und Aufgaben der Naturwissenschaft; der Antrag des Obermedizinalausschusses blieb unberücksichtigt. Pettenkofer sah sich nach einer anderen Stellung um; und da gerade eine Assistentenstelle beim königlichen Münzamte frei war, bewarb er sich um diese. Konnte er doch hoffen, da wenigstens auf einem Gebiete der Chemie fortarbeiten zu können. Um so mehr, als das Münzamt damals mit umfangreichen Aufgaben beschäftigt war. Es galt die Umprägung älterer Münzsorten in neuere. Bald zeigte der Chemiker Pettenkofer, wie wertvoll sein Wissen auch in diesem Berufe sein konnte, indem er einen Platingehalt in den Kronenthalern nachwies. Eine dauernde Stellung bei der Münzverwaltung war ihm gesichert, nun konnte er auch daran denken, seine Helene an den Altar zu führen. Sie ward ihm eine treue und glückliche Lebensgefährtin.
Indessen traten Ereignisse ein, die ihn wieder auf sein eigentlichstes Arbeitsgebiet zurückführten. Das Ministerium Abel war gestürzt; Abels Nachfolger kam auf den obenerwähnten Antrag des Obermedizinalausschusses zurück, und man fing neuerdings an, sich mit der Errichtung eines Lehrstuhles für medizinische Chemie an der Münchner Universität zu beschäftigen. Als die Anfrage an Pettenkofer erging, ob er diesen Lehrstuhl annehmen wolle, zögerte er, denn er war in seiner Stellung am Hauptmünzamte sehr glücklich gewesen. Der Rat seines alten Lehrers J. N. v. Fuchs aber veranlaßte ihn, sich schließlich doch für die akademische Laufbahn zu entscheiden. So erhielt er denn im Jahre 1847 die neugegründete Professur für „pathologisch-chemische Untersuchungen“ mit dem bescheidenen Jahresgehalt von 700 Gulden. Er richtete sich in einem Laboratorium der Universität ein und hielt Vorlesungen. Insbesondere solche über diätetische Chemie; aus ihnen ging die spätere Vorlesung über Hygieine hervor.
Aber auch der Pharmacie, die seine erste Lebensaufgabe gewesen war, sollte er nicht ganz entsagen. Denn als 1850 sein Oheim, der Hofapotheker, starb, ward Max Pettenkofer mit der Oberleitung der Hofapotheke betraut. Es war das eine dankbare Stellung, die den Gelehrten nicht an seiner Aufgabe als Universitätslehrer und Forscher hinderte; um so weniger, als ihm sein Bruder Michael als Oberapotheker zur Seite gestellt ward. Die Münchner Hofapotheke, schon unter dem älteren Pettenkofer vorzüglich geleitet, erhob sich im weiteren Verlaufe der Zeit zu einem Musterinstitut ersten Ranges, das auch in der Geschichte des Liebigschen Fleischextraktes eine entscheidende Rolle spielt.
Pettenkofer war seit seinem Gießener Aufenthalt mit Justus v. Liebig in Fühlung geblieben. Er ward auch die Ursache, daß der berühmteste Chemiker seiner Zeit für München gewonnen werden konnte. Liebig hatte bis zum Jahre 1852 alle Berufungen an andere Universitäten ausgeschlagen, weil er sich von dem von ihm gegründeten Gießener Laboratorium nicht zu trennen vermochte. König Max II von Bayern, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, die hervorragendsten wissenschaftlichen Berühmtheiten an die Münchner Universität zu ziehen, bedauerte in einem Gespräch mit Pettenkofer, dem er am Münchner Hofgarten begegnet war, daß es nicht möglich sei, Liebig zu gewinnen. Damals sagte Pettenkofer: „Majestät, jetzt geht es vielleicht!“ Er konnte dies sagen, denn er hatte kurz vorher einen Brief von Liebig erhalten, in welchem dieser eine starke Mißstimmung über gewisse Gießener Verhältnisse aussprach. Der König schickte sofort Pettenkofer in vertraulicher Sendung nach Gießen, um Liebig zu bewegen, einem Rufe nach München zu folgen. Liebigs Verstimmung über Gießen war zwar schon wieder behoben; aber er ließ sich doch von Pettenkofer bereden, nach München zu kommen, um dem Könige zu danken. Pettenkofer brachte ihn nach Schloß Berg am Starnberger See, wo der König residierte. Der Liebenswürdigkeit des Königs und der Königin gelang es, den berühmten Gelehrten zu überreden; und im Herbste des Jahres 1852 siedelte Liebig nach München über – wohl das entscheidendste Ereignis für das ganze wissenschaftliche Leben Münchens im Laufe vieler Jahre.
Und nun fand das von Pettenkofer in Angriff genommene Wissensfeid, sowie seine Thätigkeit auf demselben von Jahr zu Jahr steigende Aufmerksamkeit von seiten der Gelehrtenwelt wie auch der Staatsregierungen, der städtischen Verwaltungen, aber auch des großen Publikums.
Dieses Wissensfeld war die Hygieine oder – wie Pettenkofer es mit einem deutschen Ausdruck bezeichnet – die Gesundheitswirtschaftslehre. Wenn auch einzelne Seiten und Aufgaben der Hygieine längst bekannt waren und die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf sich gezogen hatten, so ist es doch Pettenkofers großes und verehrungswürdiges Verdienst, auf den inneren Zusammenhang aller einzelnen hygieinischen Ziele hingewiesen, sie auf experimentellen Boden gestellt und ihnen durch die Art seiner Behandlung die Würde eines selbständigen Wissenszweiges erkämpft zu haben, eines Wissenszweiges, der von tiefgreifendem Einfluß auf das Wohl und Wehe der Kulturvölker ist, der in innigem Zusammenhange steht nicht bloß mit den übrigen medizinischen Wissenschaften, sondern auch mit der staatlichen und städtischen Verwaltung, sowie mit den wichtigsten Gebieten der modernen Technik.
Von dem Gedanken ausgehend, daß die Gesundheit eines der höchsten Güter der Menschen ist, stellte Pettenkofer die Aufgaben der Hygieine fest. Während die mehrtausendjährige medizinische Wissenschaft von dem Gedanken ausging, Krankheitszustände zu bekämpfen und zu diesem Zwecke die Natur des menschlichen Körpers zu erforschen, will die Hygieine den Wert aller jener Einflüsse untersuchen, welche die natürliche und künstliche Umgebung auf den menschlichen Organismus [855] nimmt, um dadurch dessen Wohl fördern zu können. Die Gegenstände der Hygieine sind also hauptsächlich: die Luft mit ihrer physischen und chemischen Veränderung; Kleidung, Wohnung, Beheizung und Ventilation, Beleuchtung, die Beschaffenheit und Lage der Bauplätze; der Boden mit seinem Gehalt an Luft und Wasser und dergleichen; das Trinkwasser und die Wasserversorgung; Nahrungsmittel und Viktualienpolizei; Genußmittel und Kostregulative; die Abfälle des Haushalts und der Gewerbe; Kanalisierung und Desinfektion; Leichenschau und Beerdigungswesen: die gesundheitsschädlichen Gewerbe; die Beschaffenheit der Schulen und Kasernen etc.; die Gesundheitsstatistik.
Es war nur zu natürlich, daß derartige Forschungen den Gelehrten veranlaßten, vor allem die grimmigsten Feinde der menschlichen Gesundheit, die großen epidemischen Krankheiten vor den Gerichtshof der Wissenschaft zu ziehen. Und das that Pettenkofer mit einer unübertroffenen Energie, mit rücksichtslosem Heldenmute, aber auch mit beispiellosem Erfolge. Zwei furchtbare Choleraepidemien, welche München in den Jahren 1854 und 1873 heimsuchten, gaben ihm reichliche Gelegenheit, seine Untersuchungen über diese todbringende Seuche anzustellen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren epochemachend in der Geschichte der Medizin. Sie führten Pettenkofer zur Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung der Bodenbeschaffenheit für diese Krankheit. Heute steht Pettenkofer an der Spitze jener Hygieiniker, welche die Kontagiosität der Cholera und damit die Wirksamkeit der Sperr- und Isoliermaßregeln bestreiten. Die Beobachtungen der Hygieine über die Cholera wurden durch Pettenkofer sofort auch auf den Typhus ausgedehnt. Und auf diesem Gebiete ward seine Thätigkeit überaus segensreich. Zur Zeit, als er seine Untersuchungen begann, galt München für eine der ungesundesten Städte Europas. Namentlich war es der Typhus, der jahraus jahrein zahllose Opfer forderte, insbesondere junge Leute im blühendsten Alter. Nachdem Pettenkofer aber aufgedeckt hatte, daß diese Krankheit im innigsten Zusammenhange mit der Beschaffenheit des Bodens, mit den in ihm und im Trinkwasser enthaltenen Krankheitskeimen steht, und nachdem auf seine Anregung hin die einichtsvolle Münchner Stadtverwaltung die größten Anstrengungen gemacht hatte, um durch Kanalisation und Beschaffung eines reinen, vorzüglichen Trinkwassers ihre Stadt zu sanieren, wich der Typhus aus den Münchner Spitälern in wahrhaft erstaunlicher Weise.
Die Anerkennung solcher Verdienste ließ nicht auf sich warten. Schon im Jahre 1865 hatte Pettenkofer die Genugthuung, daß an den bayrischen Universitäten Lehrstühle für Hygieine errichtet wurden. Andere Hochschulen folgten. Im Jahre 1872 erhielt Pettenkofer einen höchst ehrenvollen Ruf an die Wiener Universität, wo er ein eigenes hygieinisches Institut errichten sollte. Die Lockung war glänzend. Als aber die bayrische Regierung, um den Gelehrten zu halten, fragte, welche Bedingungen er stellte, um in München zu bleiben, forderte er für sich selbst nichts, nur die Mittel zur Errichtung eines hygieinischen Instituts. Diese Mittel wurden gewährt, und Pettenkofer blieb. Das Institut ist seit 1878 in Betrieb und hat seitdem schon oft als Muster für die Einrichtung von ähnlichen Instituten an anderen Universitäten gedient.
Eine Reihe von städtischen und staatlichen Behörden wandte sich seitdem an Pettenkofers Autorität, wenn es galt, in wichtigen hygieinischen Fragen zu entscheiden. Das deutsche Reichsamt des Innern rief ihn l873 nach Berlin als Vorsitzenden der Cholerakommission des Reiches; und als in Berlin das Reichsgesundsheitsamt errichtet ward, sollte er dessen Direktion übernehmen. Er lehnte dankend auch diesen Ruf ab. Dagegen zögerte er nicht, wenn sich die Gelegenheit ergab, Studien über Epidemien an Ort und Stelle zu machen. So reiste er 1865 zu Cholerastudien nach Altenburg und Sachsen, 1868 nach Frankreich, Spanien und Malta – mit rücksichtslosem Opfermute die eigene Gesundheit preisgebend, um für die Gesundheit der ganzen Kulturwelt zu arbeiten.
Es ist unmöglich, in kleinem Raume alles zu nennen, was Pettenkofer geleistet und geschaffen hat. Ueber hundert teils größere, teils kleinere Schriften enthalten die Ergebnisse seiner Forschungen, zu denen sein rastloser Spürsinn ihn führte. Und wie entlegen waren mitunter die Gebiete, auf denen er sich bewegte! Da sehen wir ihn die Beschaffenheit der vom Menschen einzuatmenden Luft in geschlossenen Räumen auf experimentellem Wege untersuchen und prüfen, wie weit die Luft in solchen Räumen abgenutzt und auf welchen Wegen sie erneuert werden kann; wir sehen ihn den Wassergehalt von Wänden in Neubauten untersuchen, um die Bewohnbarkeit solcher Bauten zu beurteilen. Dann wieder beobachtet er die gesundheitlich wichtigen Eigenschaften der Kleiderstoffe; er erfindet einen großen kunstvollen Respirationsapparat, der die Beobachtung der vom Menschen ein- und ausgeatmeten Stoffe ermöglicht. Jahrelange Arbeiten, die er mit seinem Freunde Voit mittels dieses Apparates macht, führen zu den wertvollsten Ergebnissen. Dann sehen wir ihn wieder, wie er Schächte in den Boden der Städte graben läßt, um in dem felsigen oder kiesigen, sandigen oder lehmigen Grunde nach den kleinsten Feinden des Menschengeschlechts zu fahnden. Und während er jedes Kapitel der Hygieine entweder selbst begründet oder bereichert, findet er noch Zeit, ein berühmtes Verfahren zur Wiederauffrischung trüb gewordener und rissiger Oelbilder zu entdecken und auszubilden.
Ihm war eben jener Meisterblick gegeben, der das sieht, was andere nicht sehen, und jene Phantasie, die bei jedem Ereignis oder Gegenstand die verursachenden Gründe der Reihe nach dem prüfenden Verstande vorführt, damit er sie würdige. Diese schöpferische Phantasie im Zusammenwirken mit der reifsten Erfahrung und überlegender Beobachtung: sie sind das große Geheimnis der Erfolge Pettenkofers.
Als Knabe war er oft mit nackten Füßen hinter der Herde seines Vaters durch das braune Rohr des Donaumoors gelaufen. Erdrückend häuften sich späterhin von allen Seiten her die Ehrungen auf den anspruchslosen Mann. In Bayern ward er Geheimrat und Präsident der Akademie der Wissenschaften; er erhielt den Adelsstand und das Prädikat Excellenz; zahllose Akademien, wissenschaftliche Verbände und Institute wählten ihn zum Ehrenmitgliede; alle Dynasten überschütteten ihn mit dem funkelnden Regen ihrer Orden. Aber auch schwere Schicksalsschläge blieben ihm nicht erspart; er mußte den Verlust zweier Söhne und einer blühenden Tochter, endlich auch noch den seiner treuen Gattin Helene ertragen. Seine eiserne Natur trotzt heute noch den Stürmen des Alters.
Nun ist ein halbes Jahrhundert vergangen, seit er mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen auf dem Gebiete der Hygieine begann. Was in diesem halben Jahrhundert die Gesundheitspflege an Hochschulen, in der Gesetzgebung, in den Staats- und Gemeindeverwaltungen geworden ist: das meiste davon ist Pettenkofers mächtiger Anregung zu verdanken.
Und wie der hochbetagte Gelehrte zeitlebens nicht aus Büchern längstgedachte Gedanken zusammenzutragen und zu sichten liebte, sondern mit spürender Phantasie, mit dem packenden Griffe des Experiments in die tausendfältig versponnenen Thatsachen und Ereignisse des Lebens eindrang; wie er hineinforschte in die Grundfesten unserer Häuser, in die über uns schwankende Luftsäule, in das fließende Wasser der Ströme und in die Glut unserer Herdfeuer, überall Feindliches und Freundliches scheidend: so steht er auch in seiner persönlichen Erscheinung vor uns, als eine markige kraftvolle Gestalt, ein greiser und furchtloser Pfadfinder und Entdecker, dessen scharfes Auge heute noch den ganzen Kreis des von ihm erschlossenen Wissenszweige beherrscht. Und – was schwerer wiegt als dieses – als ein ratender Freund und Wohlthäter des leidenden Menschengeschlechts!