Marokko (Meyer’s Universum)

CCX. Antiochien in Syrien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band (1838) von Joseph Meyer
CCXI. Marokko
CCCXII. Schloss Theben in Ungarn
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MAROCCO

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CCXI. Marokko.




Von dem Schutthaufen asiatischer Vergangenheit führe ich dich in den Erdtheil, auf dem die schwarzen Völker wohnen: Kulturembryonen kommender Zeiten.

Ich führe dich auf den Hügel, von dem der Zeichner im vorigen Jahre diese Ansicht skizzirt hat. Denke dich dahin am frühen Morgen. Hinter den Bergen zucken rothe Strahlen, Sonnenboten, den schlummernden Tag zu wecken. Noch hüllt die Ebene sich in Nebelschleier, züchtig wie eine Braut, die des Geliebten harrt. Da kommt Phöbus! Seine Feuerhand ergreift den Schleier: er zerreißt; er flattert auf im Aether und verschwindet. –

Welcher Anblick!

Eine weite Ebne voll überschwänglicher Fruchtbarkeit, glühend von blühenden Caktus, Nelken und Rosen, und besäet, wie eine Tigerdecke, mit Olivenhainen und Palmengruppen, breitet sich aus vor dir, unabsehbar wie ein weites Meer. In der Mitte derselben, gleichsam herausgewachsen aus ihrem Schooße, umklammert von duftenden Gärten, liegt da, schön und reizend wie eine Braut des Ostens, Marokko. Schneeweiß schimmert das Gewand der Hauptstadt. Kronen bilden Minarets und Thürme; Dome, Kuppeln, schön vergoldet, strahlen diamanten in der Morgensonne.

Keine Stadt in der Welt, das gesteht selbst der prosaische Roberts, gibt einen so entzückenden Anblick. Auf dem saftigen Grün der Gärten, welche die Stadt durchwinden, nehmen sich ihre Gebäude größer und schöner aus. Neben den maurischen Thürmen wiegen schlanke Dattelpalmen ihre befiederten Häupter. Ein solches Verknüpfen des Städtischen mit dem Ländlichen weckt unwillkührlich die Idee der Opulenz, des Vergnügens und der Behaglichkeit, und gießt über das Ganze einen eigenthümlichen Reiz. Aber das Schöne und Anmuthige sind es nicht allein, was Marokkos Ansicht verherrlicht; das Grandiose ist’s, jener prächtige Hintergrund, jene Himmelsmauer des Atlas, deren ausgezackte Zinnen über den Wolken im weiten Halbkreise auf die Ebene herabsehen.

Der Blick auf eine ferne Gebirgswelt hat für jeden gemüthlichen Menschen Etwas, was den Geist erhebt und zur Betrachtung stimmt; hier aber ist der bloße Name schon ein Zauberer. Wer möchte nicht dort hinauf sich träumen auf die alte Himmelsfeste, um in den offenen Schlund der Vergangenheit zu schauen und sein Ohr an die verschlossenen Pforten der Zukunft zu legen? – Wer nicht dort oben hin sich träumen und, fest und unbewegt über den Strudeln der Erde stehend, die umlaufende Welt und ihre Zeiten, Länder und Völker und ihre Geschichten vorüberziehen lassen? Ach der menschliche Geist schwebt ja so gern über zerbrochenes, oder auf die Erde gebautes, zerbrechliches Gehäuse und über das Wehe und die Wonne hienieden!

Paradiese und Gräber, Jubel und Jammer grenzen nahe an einander. Auch das marokkanische Paradies ist blos EXTRA MUROS zu finden. Das Innere der Hauptstadt beschauen wir später, bei Anlaß eines andern Bildes.