Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Zwerg“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 1014
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Wiktionary: Zwerg
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Zwerg. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 1014. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Zwerg (Version vom 23.10.2021)

[1014] Zwerg, ein Mensch, welcher auffallend unter dem Minimalmaß seiner Rasse oder seines Stammes zurückbleibt. Für Mitteleuropa beginnt das Zwergentum bei etwa 100–105 cm Körperlänge, den Übergang zur normalen Größe bilden die zwerghaften Gestalten bis 140 cm Körperlänge. Als durchaus pathologische Form ist der kretinistische Zwergwuchs zu betrachten, der in gewissen Gegenden endemisch vorkommt und meist mit Idiotie und Kropf verbunden ist. Zwerge werden meist sehr klein geboren, stammen in der Regel jedoch von normalen Eltern ab und haben oft normale Geschwister. Selten haben normale Eltern mehrere zwergige Kinder. Bisweilen entwickeln sich normal geborne Kinder im Lauf der ersten Lebensjahre zu Zwergen, indem das Wachstum vorzeitig abschließt. Zwerge besitzen nur ausnahmsweise einen wohlproportionierten Körperbau, meist sind Kopf und Bauch zu groß, Arme und Füße verkürzt, es zeigt sich ein kindlicher Habitus als Resultat frühzeitig und plötzlich eingetretenen Stillstandes im Wachstum. Oft sind Rücken und Extremitäten verkrümmt, letztere sehr dick oder abnorm dünn. Die Fortpflanzungsfähigkeit fehlt oder ist sehr beschränkt. Die Muskelkraft der Zwerge ist meist sehr gering, Neigung zu Zorn, Bosheit, Eifersucht soll bei der Mehrzahl angetroffen werden; ihre Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse ist gering, sie altern früh und sterben bald. Über die Ursache des Zwergwachstums ist wenig bekannt. Das geringe Gewicht bei der Geburt deutet auf intrauterine Entwickelungsstörungen, vielleicht auf konzeptionelle Einflüsse; fötale Rachitis mit beschleunigter Verknöcherung, mit geringer Knorpelwucherung und abnormer Verdichtung des Knochengewebes scheint eine Hauptrolle zu spielen. Auch bei normal gebornen Kindern kommt Rachitis neben Störungen in der Entwickelung des Großhirns (chronische Gehirnwassersucht) in Betracht. Der kleinste Z., von dem wir glaubwürdige Nachrichten haben, maß 42 cm und wurde 37 Jahre alt; eine Zwergin, Anna Therese Sonbrey, aus den Vogesen gebürtig, war 86 cm lang und erreichte ein Alter von 64 Jahren. Die normal gebaute „Prinzessin Pauline“ war im Alter von 9 Jahren 53,8 cm hoch und 4 kg schwer. Bei den Römern wurden die Zwerge zu mancherlei Verrichtungen, bisweilen selbst, des Kontrastes willen, bei Fechterspielen gebraucht. Im deutschen Mittelalter galten Zwerge wie Krüppel weder für lehns- noch erbfähig, mußten aber von ihren nächsten Verwandten, die statt ihrer erbten, ernährt und verpflegt werden. Später, in den Zeiten der Hofnarren, dienten die Zwerge zum Vergnügen bei Höfen, wo sie unter der nächsten Bedienung der Fürsten vorkamen und besonders bei Tisch die Gäste belustigen mußten. Noch im 18. Jahrh. fehlte an den deutschen Höfen selten ein solcher „Kammerzwark“, der auch bisweilen die Rolle eines Hofnarren spielte. Am weitesten trieb es damit Peter d. Gr. von Rußland, der die Zwerge seines Reichs an seinem Hofe versammelte und die bekannte Zwergenhochzeit veranstaltete. Vgl. Bollinger, Zwerg- und Riesenwuchs (Hamb. 1884); Arendes, Über Zwergbildung (Götting. 1886).

Eine wichtige Stelle nehmen die Zwerge in der Mythologie, besonders in der deutschen, ein. Über den Ursprung der betreffenden Vorstellung s. Elfen. Sie sind teils Wolkendämonen (ursprünglich die Sterne), teils werden sie in den Tiefen der Erde als Schmiede (ursprünglich Gewitterschmiede) lokalisiert gedacht, die dann in den Wolken ihre Nebelkappen überziehen; eine Beziehung zu den Geistern der Verstorbenen tritt endlich noch in den Namen hervor, welche sie oft in der deutschen Volkssage führen, wo sie häufig Üllerken, Ölken, Alken, d. h. die Alten, Ältern, genannt werden. In ersterer Hinsicht entsprechen sie den indischen Maruts, in zweiter den Ribhus, in letzterer den Pitaras (lat. patres) und den römischen Manes. Wie die Maruts als Windgeister den Indra in seinem Kampf gegen die finstern Wolkenmächte unterstützen, so sind in der nordischen Mythologie gerade die Namen der vier Hauptwinde Austri (Ost), Vestri (West), Nordhri (Nord) und Sudhri (Süd) Zwergnamen. Wie die Ribhus dem Indra den Donnerkeil schmieden, schmieden die Schwarzelfen in der nordischen Sage dem Odin den siegverleihenden Speer Gungnir, dem Donnergott Thor den Hammer Miölnir (beides Blitzwaffen) und endlich der Sonnengöttin Sif, als Loki ihr hinterlistiger Weise das Haar abgeschnitten, neues Haar von Gold, welches wie natürliches wuchs (d. h. die Sonnenstrahlen). In der deutschen Volkssage tritt besonders der Charakter als elementarer Erdgeister hervor; gewöhnlich werden sie als mißgestaltet gedacht. Sie stehen unter eignen Königen und wohnen im Innern der Erde, in Höhlen und Klüften, wo sie prächtige Gemächer bauen. Aber auch in Feld und Wald ist ihr Walten bemerkbar, und das Echo heißt dwergmâl („Zwergensprache“). Deutlich noch spricht der Mythus diese Beziehung auf den Fruchtsegen aus, wenn er die Zwerge oder Elben im Gefolge der großen Göttin, der Gemahlin Odins, darstellt, als huldrevolk Frau Holda durch Wald und Feld begleitend oder als Heimchen auf Berchtas Geheiß die Felder und Fluren der Menschen bewässernd. Unsichtbar machen sie sich durch die Tarnkappe (s. d.), einen zauberischen Mantel oder Hut. Wer einem Z. die Tarnkappe abgewinnt, erwirbt damit die Herrschaft über denselben und durch Anlegung der Tarnkappe Unsichtbarkeit und erhöhte Stärke. Haben aber die Zwerge die Macht, den Menschen zu nützen, so besitzen sie auch die Macht, zu schaden, und die Mythen und Volkssagen wissen viel zu erzählen, wie sie durch Berührung, Anhauchen oder Blick Krankheiten, z. B. den Weichselzopf, ja selbst Tod bringen können, Wechselbälge statt der Kinder einlegen u. dgl. Oft machen sie auch Gemeinschaft mit den Menschen, welche sie mit sich in ihre unterirdischen Bergpaläste nehmen und dort herrlich bewirten, deren Hilfe sie auch häufig in Anspruch nehmen, namentlich bei Geburten, bei Einteilungen und großen Festen, zu denen sie sich die Benutzung von Sälen erbitten. Geleistete Dienste lohnen sie nicht selten durch Kleinode, welche den Häusern und Familien besonders Heil bringen. Die beiden Edden führen eine große Menge einzelner Zwerge an, welche noch nicht vollständig erklärt sind. Berühmt sind die Zwergenkönige Laurin und Alberich. Vgl. Grimm, Deutsche Mythologie; Kuhn, Die Sprachvergleichung und die Urgeschichte der indogermanischen Völker (in „Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung“, Bd. 4, Berl. 1854); Schwartz, Ursprung der Mythologie (das. 1860, namentlich S. 18, 117, 247).