MKL1888:Zeichenkunst
[841] Zeichenkunst, die Kunst, seine Gedanken durch das Bild vermittelst des Stifts auszudrücken oder das, was andre zeichneten, in derselben Weise oder in veränderter Form und Art wiederzugeben. Die Zeichnung ist entweder aus freier Hand entworfen (freie Zeichnung, freies Zeichnen), oder unter Anwendung von Hilfsmitteln nach bestimmten Gesetzen gefertigt: technische Zeichnung. Das freie Zeichnen beschäftigt sich mit ebenen Gebilden und mit Körpern. Ebene Gebilde werden in wahrer Form und Größe oder in verändertem Maß gearbeitet, Körper zeichnet man perspektivisch, d. h. so, wie sie dem Beschauer von einem bestimmten Ort aus erscheinen. Die ebenen Gebilde sind vorwiegend ornamentaler Natur [842] (Flächenornamente, Flächenmuster) und dienen hervorragend dem Kunsthandwerk: Tapeten, Decken- und Wanddekorationen, Stickereien aller Art, Gardinenmuster, Gewebemuster, Initialen, zum Teil Kopfleisten, Vignetten, Einfassungen u. dgl. Die zu zeichnenden Körper sind entweder plastische Ornamente (Basreliefs [Flachornamente] und Hautreliefs) und werden im Dienste der Kunst und des Kunsthandwerks hergestellt, oder es sind Gefäße, architektonische Formen, Pflanzen, Tiere, Teile des menschlichen Körpers. Die freie Zeichnung ist die Grundlage der Malerei; man bezeichnet sie als Skizze, d. h. ein leichter, flüchtiger, aber charakteristischer Entwurf zur Festhaltung oder bessern Beurteilung eines zeichnerischen Gedankens; als ausgeführte Zeichnung, wenn sie alle Einzelheiten einschließlich der Beleuchtungserscheinungen enthält; als Studie, d. h. eine Zeichnung einzelner Körperteile, welche als Vorbereitung für ein größeres Werk dienen soll (Handzeichnungen von Raffael, Leonardo da Vinci, Dürer etc.), oder als Karton, d. h. eine große Zeichnung in Umrissen mit geringer Schattenangabe (Kartons von Cornelius in der Nationalgalerie zu Berlin). Zu den Studien sind auch zu rechnen: Akte, künstlerische Zeichnungen nach dem nackten, in der Regel stark bewegten menschlichen Körper, und Gewandstudien, Zeichnungen nach dem malerisch bekleideten Körper. Die freie Zeichnung wird zumeist mit weichem Bleistift in breiten, weichen Strichen im Umriß ausgeführt (Konturzeichnung). Enthält sie die Schattenangabe oder die Tönung eines Teils in parallelen Strichen, so heißt sie schattiert und schraffiert. Oft werden diese Striche mit dem Wischer (franz. estompe) verwischt oder die Töne auch unmittelbar mit dem in Wischkreide getauchten Wischer aufgetragen: gewischte (estompierte) Zeichnung. Gewandte Zeichner bedienen sich anstatt des Bleistifts der schwarzen Kreide (Kreidezeichnung) oder des Rötels und des Blaustifts. Andere benutzen farbige Stifte und verwischen deren Töne mit dem Wischer (Pastellzeichnung, Pastellmalerei). Die Beleuchtungserscheinungen werden auch mit dem Pinsel und stark verdünnter schwarzer Tusche oder Sepia angelegt und verwaschen (Lavieren; Tuschzeichnung), oder man läßt die einzelnen Töne unvermittelt stehen, arbeitet mit abgesetzten Tönen. Zeitweise beliebt waren Federzeichnungen (Umriß- und Schattenlinien, mit der Feder ausgezogen) und Zeichnungen auf mehrfarbigem, präpariertem Papier (papier pelé), aus dem die Lichter herausgeschabt werden. Beim Zeichnen auf einfarbigem Tonpapier setzt man die Lichter mit weißer Kreide oder mit Zinkweiß auf (Zeichnungen in zwei Kreiden, aux deux crayons). Wer mit Kohle zeichnet, fixiert seine Arbeit durch das Aufblasen einer Lösung von Schellack in Weingeist (Fixativ).
Die technische Zeichnung erfordert Kenntnis der Planimetrie und der darstellenden Geometrie und will in stufenmäßiger, vom Einfachen zum Schwierigen fortschreitender Weise erlernt sein. Die erste Stufe bilden die Konstruktionen ebener Gebilde, die Darstellung z. B. von Parkettmustern, Dessins, Ellipsen, Spiralen, Cykloiden u. dgl. Es folgen die Projektionen. Die meist angewandte Parallelprojektion ist die rechtwinkelige, orthogonale, orthographische Projektion, bei der die projizierenden (parallelen) Strahlen rechtwinkelig, senkrecht zur Projektionsebene stehen. Sie wird verwendet beim Zeichnen der Grundrisse, Aufrisse, Seitenrisse, Schnitte. Auf ihr zum größten Teil beruhen Planzeichnungen, kartographische Zeichnungen (Kroquis der Offiziere), Maschinenzeichnungen, Bau- (architektonische) Zeichnungen, fortifikatorische Zeichnungen u. a. Während diese Projektion zum Verständnis des Objekts mehrerer Zeichnungen bedarf, hat die Axonometrie nur ein Bild nötig. Sie stellt die Projektionsebene so, daß alle drei Ausdehnungen eines Körpers in gleichem Maß erscheinen (isometrische Zeichnung, die in den Werkzeichnungen der Handwerker, Maurer, Steinmetzen, Zimmerer etc. die Details in wahrer Größe gibt), oder so, daß nur zwei Körperachsen gleiches Maß erhalten (dimetrische Zeichnung), oder so, daß alle drei Achsen nach verschiedenem Maßstab behandelt werden (trimetrische Zeichnung). Die letztere Art ähnelt der perspektivischen Zeichnung. Außerdem wendet man bei technischen Zeichnungen die schiefe (klinogonale, klinographische) Projektion an, bei welcher die projizierenden Parallelstrahlen nicht rechtwinkelig zur Projektionsebene stehen. Auf ihr beruhen die Kavalier-, die Militär-, die Frosch-, die Vogelperspektive; sie konstruieren nach gleichem Prinzip, aber bei verschiedener Stellung der Projektionsebene. Die Zentralprojektion oder Perspektive gibt das Bild eines Körpers seiner Erscheinung am ähnlichsten wieder (perspektivische Zeichnung). Die projizierenden Strahlen gehen dabei sämtlich durch einen Punkt. Zur vollendeten Ausführung technischer Zeichnungen gehören endlich die Kenntnis der Schattenkonstruktion, die Ermittelung der Eigen- und Schlagschattengrenzen und die Anlage der Schatten in Tusche (verwaschen oder in abgesetzten Tönen, s. oben).
Das Kopieren einer Zeichnung im Maßstab des Originals geschieht 1) indem man die Hauptpunkte mittels Kopiernadeln (s. unten) auf das unter dem Original liegende Blatt überträgt und dann verbindet; 2) indem man das Original auf der linken Seite mit Kohle oder Graphit schwärzt, auf das neue Blatt legt und mit einem spitzen Griffel (harten Stift) unter mäßigem Druck überfährt. Das Durchgepauste wird nachgezogen 3) indem man die Zeichnung auf Pauspapier, Pausleinwand (glasartig durchsichtige Stoffe) überträgt und diese auf weißes Papier klebt. In verändertem (kleinerm [verjüngtem] oder größerm) Maßstab kopiert man 1) mittels des Quadratnetzes: ein quadratisches Fadennetz wird über das Original gespannt, ein Quadratnetz mit gewünschter kleinerer oder größerer Seitenlänge wird mit Bleistift auf das Papier gezeichnet und dann der Inhalt jedes Quadrats sorgfältig übertragen. 2) Mittels des Storchschnabels (Pantographen), eines seit der Mitte des 17. Jahrh. bekannten Instruments; 3) mit Hilfe der Reduktionszirkel, Zirkel mit doppeltem, der Länge nach verstellbarem Schenkelpaar.
Kurvenlineal. | |
Der Z. dienstbar sind: der Zeichentisch mit breiter, geneigter, oft verstellbarer Platte; das Zeichen- (Reiß-) Brett, rechteckig, aus weichem, astlosem (Linden- oder Pappel-) Holz mit stützenden Schrägleisten; die Reißschiene, ein dünnes Lineal mit einer am Ende rechtwinkelig befestigten Schiene, zuweilen mit einer zweiten beweglichen, in beliebigem Winkel festzuschraubenden Schiene; das Dreieck aus Holz oder Hartgummi mit 45°-Winkeln oder mit 30°- und 60°-Winkeln neben dem rechten Winkel; das Kurvenlineal, ebenfalls aus Holz oder Hartgummi, zum [843] Zeichnen der verschiedensten Kurven, für welche einzelne Punkte durch Konstruktion bestimmt sind; das Parallel- und das Schraffierlineal zum Ziehen von Parallellinien; der Storchschnabel (s. oben); das Reißzeug, eine Zusammenstellung von Zirkeln und Reißfedern zum Ausziehen der Konstruktionen mit Tusche; die Punktierfeder zur Ausführung verschiedenartig punktierter Linien; der Winkelmesser (Transporteur) zum Messen und Auftragen beliebiger Winkel; Reißnägel (Heftzwecken) zur Befestigung des Papiers; Zentrizwecken mit einer Vertiefung in der Mitte zur Aufnahme der bei der Ausführung von Kreisen feststehenden Zirkelspitze; Kopiernadeln, feine Stahlnadeln mit großem Kopf (s. oben). Man zeichnet auf Holz, Stein, Pergament, am häufigsten auf Papier, auf weißem oder auf farbigem (Ton-) Papier. Die bessern Bütten- (Schöpf-) Papiere sind den Maschinenpapieren gewichen, von denen die rheinischen (Düren) den Vorzug verdienen. Von Tonpapieren brauchte man früher gern die französischen, während jetzt die deutschen den Anforderungen genügen. Zu feinern technischen Zeichnungen und Aquarellen bedient man sich immer noch der englischen Whatman-Papiere. Das Papier wird meist nur mit Heftzwecken befestigt; soll jedoch getuscht werden, so ist das Aufkleben (Aufspannen) nötig. Der an den Rändern mit Klebstoff (Gummi, Kleister, Leim) versehene Bogen wird vollständig angefeuchtet auf das Reißbrett geklebt und ist nach dem Trocknen völlig glatt, kann auch wiederholt abgewaschen und mit Farbe überzogen werden. Um dem Zeichner das Aufziehen des Papiers zu ersparen, hat man zehn oder mehrere Zeichenbogen gleicher Größe auf solide Pappunterlage gebracht und mit Leinenstreifen aneinander geklebt (Zeichenblock).
Die Uranfänge der Z., künstlerischer Unterweisung im Zeichnen, mögen wir suchen bei Ägyptern, Assyrern, Indern, Persern, Etruskern. Im Mittelalter waren die Klosterschulen und die Bauhütten Pflanz- und Pflegestätten der Z. Bei diesen wie bei jenen ist an den sogen. Meisterunterricht zu denken: der Schüler sah dem Meister seine Kunst ab. Versuche zur Verallgemeinerung der Z. finden wir vielleicht bei den Griechen, welche Grammatik, Gymnastik, Musik und Zeichnen als Hauptgegenstände der Jugenderziehung ansahen; die Bestrebungen aber, die Z. zum Gemeingut des ganzen Volkes durch einen pädagogisch geordneten Unterricht zu machen, gingen von den großen Pädagogen des 17. Jahrh. (Comenius, Locke, Francke) aus. Im 18. Jahrh. erstrebten vor allen Rousseau und die Philanthropisten einen geordneten Zeichenunterricht, Pestalozzi folgte ihnen darin nach. Der Neuzeit war es vorbehalten, den Zeichenunterricht zu trennen von der Z., den Meisterunterricht in die Ateliers zu bannen und das Schulzeichnen zu einem Geist und Gemüt, Auge und Hand bildenden Unterrichtsfach zu gestalten. Vgl. Flinzer, Lehrbuch des Zeichenunterrichts (4. Aufl., Leipz. 1888); Weishaupt, Theorie und Praxis des Zeichenunterrichts (2. Aufl., Weim. 1879, 2 Bde.); Lang, Theorie und Technik des Zeichnens (Erlang. 1884); Wunderlich, Geschichte der Methodik des Freihandzeichenunterrichts (Bernb. 1886). Zur Förderung der Z. und des Zeichenunterrichts bestehen in Deutschland und der Schweiz zahlreiche Vereine, deren bedeutendster der Verein deutscher Zeichenlehrer ist; zu gleichem Zweck erscheinen in deutscher Sprache neun Zeitschriften, in holländischer Sprache erscheint ein Blatt. Die verbreitetsten Zeitschriften sind: „Zeitschrift des Vereins deutscher Zeichenlehrer“ (Stade), „Zeitschrift des Vereins österreichischer Zeichenlehrer“ (Wien), „Monatsblatt für den Zeichenunterricht in der Volksschule“ (Hannover).