Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Weizen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 515516
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Weizen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 515–516. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Weizen (Version vom 05.05.2024)

[515] Weizen (Triticum), Gattung aus der Familie der Gramineen, Gräser mit einzeln in den Ausschnitten der Spindel stehenden, breit gedrückten, mit der breiten, flachen Seite gegen die Spindel gerichteten, drei- bis vielblütigen Ährchen, in denen aber mehrere Blüten verschlagen, so daß jedes Ährchen in der Regel nur 2 oder 3, selten nur ein Korn enthält. Die Deckspelzen sind breit, gekielt, spitz oder stachelspitzig; die untere Spelze hat eine begrannte oder wehrlose Spitze. Von den angebauten Arten unterscheidet man zwei Gruppen, nämlich den bespelzten W., als Spelz- und Dinkelarten (nebst Emmer oder Amelkorn und Ein- oder Peterskorn, T. spelta, T. amyleum, T. monococcum), mit meist zusammengedrückten Ähren, an den Knoten zerbrechlicher Spindel und 1–3 beschalten Körnern in den Ährchen (s. Spelz), und die nackten, die eigentlichen Weizenarten, mit meist dicker, vierseitiger Ähre, an den Knoten zerbrechlicher Spindel und 3 unbeschalten Körnern in den Ährchen. Der milde W. (T. sativum Zam.), mit an den etwas breitern Seiten der Ähre dachziegelförmig übereinander, an den schmälern zweizeilig liegenden Ährchen und breiten, kurzen, festen, an der Spitze abgeschnittenen Kelchspelzen mit wenig hervortretendem Kiel, wird in allen Kulturländern als Sommer- und Winterfrucht gebaut und zwar vorherrschend die Arten ohne Grannen, seltener die begrannten. Man klassifiziert die Sorten dieses Weizens nach Farbe der Ähre (weiß, rot, fahl), des Korns (weiß, gelb, rot) und nach Behaarung der Ähre (glatt, behaart); jedoch ändern alle diese Merkmale je nach Klima, Boden, Düngerzustand ab und gehen ineinander über, ebenso wie der gedrungene und gestreckte Wuchs der Ähre. Der W. wird als Sommer- und Winterfrucht gebaut, er erfordert einen viel bindigern Boden als Roggen und gedeiht besonders in gutem Kalkmergel- oder Thonmergellehm, aber auch in gutem Lehmboden mit vorherrschendem Sandgehalt. Je weniger Bindigkeit der Boden besitzt, um so mehr ist man auf die robustern begrannten Arten angewiesen, welche auch ein rauheres Klima vertragen. Der W. bedarf nicht so fein gepulvertes Land wie der Roggen, doch muß dasselbe frei von Schollen sein und mehr in Kraft stehen. Gegen vorübergehende Nässe ist er viel weniger empfindlich als Roggen, aber stehende Nässe und Säuerung verträgt er besonders in kalkarmem Boden nicht. Sehr förderlich ist dem W. Drillsaat und späteres Behäufeln der Saatreihen. Bei zu geilem Wuchse schröpft man. Bei nassem Erntewetter wächst W. viel öfter aus als Roggen. In strengerm Boden, in welchem letzterer für sich allein nicht mehr gedeiht, kultiviert man denselben im Gemenge mit W. als Gemengkorn, welches gutes Brot gibt. Als Saatgut verwendet man Samen, die in der Glas- und Vollreife geerntet wurden. Sehr vorteilhaft ist es, von einer Ernte auf gutem Weizenboden die schönsten Ähren und aus diesen die besten Körner zu wählen, diese einer sorgfältigen Kultur zu unterwerfen und aus dem Ertrag neues Saatgut in derselben Weise auszuwählen. Setzt man dieses Verfahren mehrere Jahre fort, so erhält man eine Sorte mit viel längern Ähren und gehaltreichern Körnern; doch geht dieselbe alsbald wieder zurück, sobald man in der sorgfältigen Behandlung erlahmt. Der grobe W. (T. turgidum L.), mit etwas breit gedrückten, sonst dem vorigen ähnlich gebauten Ähren, bauchigen, eiförmigen, stark gekielten Kelchspelzen und oft lang begrannten Blütenspelzen, besitzt sehr steife Halme und dicke Ähren, ist weniger dem Rost ausgesetzt, lagert sich seltener, hat kornreiche Ähren, ist so robust wie der gemeine Grannenweizen, gibt aber wegen weitläufigern Standes der Halme und dickschaligerer Körner keine höhern Erträge; das Stroh ist etwas fester, soll sich weniger leicht dreschen und das Mehl mehr Umsicht beim Verbacken erfordern. Man baut ihn als Sommer- und Winterfrucht in Mitteleuropa in mehreren Varietäten, zu welchen auch der Wunderweizen (Pyramiden-, Mumien-, Josephsweizen) gehört. Bei diesem verästeln sich die Ähren bis gegen die Spitze hin. Er wintert leicht aus und bringt selten dichte Bestände. Den Namen Pyramidenweizen erhielt er, weil der W., den man aus Körnern, welche in den Pyramiden gefunden waren, erzogen haben wollte, teilweise zu dieser Art gehört. Wunderweizen wurde aber schon im 16. Jahrh. in Deutschland angebaut, während Graf Sternberg weit später zuerst Körner aus den Pyramiden aussäete; da dieselben aber nicht keimten, ersetzte sie dessen Gärtner (wie letzterer dem Geheimrat Kühn-Halle selbst gestanden) heimlich durch einheimische Samen, und es ist daher die Historie des Mumienweizens auf eine Täuschung zurückzuführen. Der Gerstenweizen (hartsamiger, Bart-, Glasweizen, T. durum L.), mit Ähren wie die vorigen Arten, aber bauchigen, dreimal so langen als breiten, breit stachelspitzigen, gekielten Deckspelzen, sehr lang begrannten Blütenspelzen und innen glasigen Körnern, wird meist als Sommerfrucht und fast einzig im südlichen Europa gebaut. Der polnische W. (Gommer, walachisches, astrachanisches, sibirisches Korn, Korn von Kairo, T. polonicum L.), mit unregelmäßig vierseitiger oder zusammengedrückter, sehr langer Ähre, etwas bauchigen, länglich lanzettlichen, papierartigen, deutlich vielnervigen, gekielten Deckspelzen, lang begrannten Blütenspelzen und sehr langen Körnern, wird als Sommerfrucht gebaut und liefert ein Mehl, welches zwischen Roggen- und Weizenmehl steht; einen Kulturwert hat diese Spezies nicht. Über Aussaat, Ertrag etc. des Weizens belehrt die nachstehende Tabelle:

Weizen Aussaat auf 1 Hektar Ertrag von 1 Hektar Keim­fähig­keit Vege­tations­peri­ode 1 Schef­fel wiegt
breit­würfig ge­drillt Körner Stroh
Schef­fel Kilo­gr. Schef­fel Kilo­gr. Schef­fel Kilo­gr. Jahre Wo­chen Kilo­gr.
Winter­weizen 4,3–5,4 166–208 3,2–4,3 123–166 43–65 3133–4700 3 42–50 38,68
Sommer­weizen 4,7–5,8 182–225 4,3–4,7 166–186 34–52 2350–3916 3 18–20 39,13

[516] Feinde des Weizens sind besonders: die Drahtwürmer (Agriotes segetis), der schwarzbraune Kornwurm (Calandra granaria), die Wintersaateule (Agrotis segetum), der weiße Kornwurm (Tinea granella), das Grünauge (Chlorops lineata), der Getreideverwüster (Cecidomyia destructor), die Weizenmücke (C. tritici), das Weizenälchen (Anguillula tritici), außerdem Brand- und Rostpilze. Die quantitative Zusammensetzung des Weizens schwankt nach Art, Varietät, Bodenbeschaffenheit und Klima. Er enthält im Mittel 12,42 Proz. eiweißartige Körper, 1,70 Fett, 67,89 Stärkemehl und Dextrin, 2,66 Holzfaser, 1,77 Asche und 13,56 Proz. Wasser. Die vorwaltenden Aschenbestandteile sind: Kali, Phosphorsäure und Magnesia. Weizenmehl gibt mit Wasser einen zähen Teig, aus welchem man unter einem Wasserstrahl das Stärkemehl auswaschen kann, so daß der Kleber zurückbleibt. Der Kleber des Weizens besteht aus Gliadin, Glutenfibrin, Glutenkasein und Mucedin. Kennzeichen der Güte des Weizens ist vor allen hohes spezifisches Gewicht. W., welcher 0,73 kg pro Liter wiegt, gehört zu den guten, mehlreichen. Hierbei sollen die Körner gleichartig, groß und voll sein. Der W. ist nach dem Boden, auf welchem er wuchs, und nach dem Land sehr verschieden. Ungarischer und Banater W. gehört zu den besten Sorten und ist doch im Querschnitt hornartig. Bei dem in nördlichen Gegenden gewachsenen W. wird dagegen jener, welcher im Querschnitt eine gleichmäßig weiße Farbe besitzt, das beste Mehl geben (milder W.), während solcher mit hornartigen Flecken im Querschnitt schlechteres Mehl liefert. Der W. nimmt einen viel breitern Gürtel ein als der Roggen und wird als vorherrschende Brotfrucht im mittlern und südlichen Frankreich, in England, einem Teil von Deutschland, in Polen, Ungarn, den südlichen Donauländern, Italien, in der Krim, in den Ländern am Kaukasus, auch im mittlern Asien, in Nord- und Südamerika, am Kap und in Australien gebaut. An der Nordgrenze (Norwegen bis Drontheim, Rußland bis St. Petersburg, in den Alpen bis 1000 m ü. M.) ist er mit der Roggenkultur, an der Südgrenze mit den Reis- und Maisbau vergesellschaftet, letzteres besonders in den Mittelmeerländern und in Nordamerika. Man benutzt Weizenmehl zu Brot und feinern Backwaren, in der Küche, zu Nudeln, Oblaten, Kleister etc.; gewisse kleberreiche Weizensorten dienen zur Bereitung der Maccaroni. Man bereitet aus dem Korn auch Graupen, Grütze, Gries, dann Stärkemehl und aus dem abfallenden Kleber allerlei Nahrungsmittel, Kitt, Leim etc. Auch in der Bierbrauerei und Branntweinbrennerei wird W. verarbeitet. Das Stroh dient in der Landwirtschaft und, in besonderer Weise kultiviert, wobei es einen hohen Grad von Feinheit erlangt, in der Strohflechterei. W. bildet den Hauptgegenstand des Getreidehandels sowohl auf Binnenmärkten als in Hafenplätzen. Ausfuhrländer sind: Nordamerika, Südrußland (Odessa), die Donaufürstentümer, Polen, Ungarn und das Banat, das östliche Deutschland. Die reichsten Kornkammern bilden gegenwärtig Nordamerika und Ungarn. Aus Stettin und andern Ostseehäfen wird pommerscher, schlesischer, polnischer W. verschifft, namentlich nach England und zum Teil nach Frankreich. Die Hauptländer für den Weizenbau in Deutschland sind: die Provinz Sachsen, Schleswig-Holstein, Schlesien, Preußen, Pommern, das hannöversche Marschland und der Regierungsbezirk Wiesbaden. Auch Chile hat W. auf den europäischen Markt gebracht. Der W. soll nach griechischen Mythen auf den Fluren von Enna und in Sizilien heimisch sein; viel wahrscheinlicher aber stammt er, wie die Gerste, aus Mittelasien, wo man ihn am Ufer des Euphrat noch gegenwärtig wild wachsend gefunden haben will. Jedenfalls gehört er zu den am längsten angebauten Cerealien. Theophrast beschreibt den begrannten Sommerweizen, aus welchem sich der Winterweizen erst später entwickelt haben soll. Auch in China war er schon 3000 Jahre v. Chr. als Kulturpflanze bekannt. Die große Mannigfaltigkeit der ältern Namen des Weizens deutet hinlänglich auf den großen Verbreitungsbezirk hin, welcher der Pflanze schon ursprünglich zukam. T. turgidum wurde ebenfalls schon von den Ägyptern kultiviert und war auch den Römern zur Zeit des Plinius bekannt. Da er weder früher noch später nach Indien vordrang, so muß sein Vaterland eher im Süden und Westen des Mittelmeers als in Mittelasien zu suchen sein. T. repens, s. v. w. Agropyrum repens.