Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Waldénser“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 348349
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Waldénser. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 348–349. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Wald%C3%A9nser (Version vom 28.03.2023)

[348] Waldénser (Waldesier), eine als Vorläuferin der Reformation berühmte religiöse Genossenschaft, die ihren Namen einem reichen Bürger von Lyon, Petrus Valdez oder Waldus, verdankt. Derselbe ließ sich Übersetzungen mehrerer Stücke der Bibel besorgen und wurde durch ihr Studium zu dem Entschluß geführt, durch Übernahme freiwilliger Armut die apostolische Reinheit der Kirche wiederherzustellen. Zu diesem Zweck zog er bald nach 1170 zur Verkündigung des Evangeliums mit Anhängern umher, welche, weil sie allem Eigentum entsagt hatten, Pauperes de Lugduno (die Armen von Lyon, daher auch Leonisten) hießen. Die lombardischen W. (Pauperes italici) vereinigten sich in Mailand mit den dort schon bestehenden Humiliaten, so genannt wegen ihrer Demut. Mit der Kirche, deren Anerkennung sie vergeblich auf dem dritten Laterankonzil 1179 erstrebt hatten, gerieten sie zunächst bloß wegen des freien Bibellesens und wegen der Laienpredigt in Konflikt, späterhin auch bezüglich der Sakramentenlehre. Sie wurden deshalb von Lucius III. auf der Synode zu Verona 1184 und von Innocenz III. auf dem Laterankonzil 1215 gebannt, verbreiteten sich aber nichtsdestoweniger in Italien, Frankreich und Böhmen. Bald nach dem Tode des Stifters verhandelten die französischen und die italienischen W. 1218 zu Bergamo verschiedene trennende Fragen. Von Frankreich wanderten sie nach den Südabhängen der Kottischen Alpen, und seither blieben die Hauptsitze der Sekte die Thäler von Piemont und Savoyen. Hier wie überall hatten sie trotz ihrer rein evangelischen Grundsätze und ihres von den Vorschriften der Bergpredigt geleiteten Lebens bis ins 18. Jahrh. hinein zahllose Verfolgungen zu erdulden. So ließ Papst Sixtus IV. 1477 sogar einen Kreuzzug gegen sie predigen. Spätestens aus dieser Zeit stammt auch ihr bedeutendstes litterarisches Produkt, das religiöse Lehrgedicht „Nobla Leyczon“. Die Reformation drang auch bis in die Waldensersitze vor; 1532 fand unter Farels (s. d.) Teilnahme eine Waldensersynode statt, welche die Ohrenbeichte und die Siebenzahl der Sakramente abschaffte, den Cölibatszwang aufhob und sich der reformierten Lehre anschloß. In der Dauphiné wurden 1545 gegen 4000 W. ermordet, 1655 sind von einem piemontesischen Heer, vereint mit Banditen und fanatischen Irländern, zahllose W. unter den entsetzlichsten Qualen hingeschlachtet worden, ja 1685 wurden durch ein französisches und italienisches Heer etwa 3000 W. getötet, 10,000 in Gefängnisse geworfen und 3000 ihrer Kinder in katholische Orte verteilt. Neuerdings verwandten sich protestantische Mächte, namentlich Preußen, mit Erfolg zu ihren gunsten, und durch Patent des Königs von Sardinien vom 17. Febr. 1848 erhielten sie religiöse und kirchliche Freiheit sowie gleiche bürgerliche Rechte mit der katholischen Bevölkerung. Die W. bewohnen jetzt hauptsächlich die drei Alpenthäler Val Martino, Val Angrona und Val Lucerna, wo sie sich durch Sittenreinheit, Gewerbfleiß und treffliche Bearbeitung der Felder und Weinberge vorteilhaft auszeichnen. Ihre Zahl ist daselbst von 80,000 (um 1500) auf höchstens 25,000 zurückgegangen. Im J. 1883 gab es in ganz Italien nur 14,866 W. In 15 Thalgemeinden waren [349] 1848 thätig 18, dagegen 1885 ebendaselbst 24, außerdem im übrigen Italien noch 48 Geistliche in 43 Gemeinden und 16 Missionsstationen von den Alpen (Turin) bis nach Sizilien (Palermo). Die Prediger müssen nach der Kirchenverfassung von 1839 studiert haben und werden von den Gemeinden gewählt, von der Synode bestätigt. Diese, aus Geistlichen und Laien zusammengesetzt, versammelt sich alle fünf Jahre abwechselnd in einem der drei genannten Alpenthäler Piemonts und ist die oberste gesetzgebende Behörde. 1879 zählte die theologische Schule in Florenz 3 Professoren und 17 Studenten. Vgl. Dieckhoff, Die W. im Mittelalter (Götting. 1851); Herzog, Die romanischen W. (Halle 1853; dazu die Entgegnung von Dieckhoff, Götting. 1858); Palacky, Über die Beziehungen der W. zu der ehemaligen Sekte in Böhmen (Prag 1869); Preger, Beiträge zur Geschichte der W. (Münch. 1875); Nielsen, Die W. in Italien (a. d. Dän., Gotha 1880); Montet, Histoire littéraire des Vaudois de Piémont (Par. 1883); Comba, Histoire des Vaudois d’Italie (das. 1887, Bd. 1); K. Müller, Die W. und ihre einzelnen Gruppen bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts (Gotha 1886); L. Keller, Die W. und die deutschen Bibelübersetzungen (Leipz. 1886).