Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Volksrecht“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 16 (1890), Seite 268269
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Volksrecht. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 268–269. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Volksrecht (Version vom 28.10.2022)

[268] Volksrecht ist das im Volk selbst entstandene und in dessen Bewußtsein lebende Recht. In diesem Sinn ist jedes positive Recht seinem Ursprung nach V. Denn bei allen Nationen findet in den frühern Zeiten der Kulturentwickelung eine unmittelbare Teilnahme des Volkes an der Bildung und Anwendung des Rechts statt. Diese Bildung erfolgt in der ersten Periode der Rechtsgeschichte fast ausschließlich im Weg des Gewohnheitsrechts, d. h., ähnlich wie die Bildung von Sprache und Sitte, durch die lebendige Übung, und das Dasein des Rechts ist hier nichts andres als die Überzeugung des Volkes von der Notwendigkeit dieser Übung. Mit dem Aufkommen geschriebenen Rechts tritt die Rechtsgeschichte in ihre zweite Periode: das Recht wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis und berufsmäßiger Pflege von seiten des Juristenstandes. Aber es hört deshalb nicht notwendig auf, V., von der Überzeugung des Volkes getragenes Recht, zu sein. Im Anfang dieser Periode um so weniger, als die ältesten schriftlichen Rechtsdenkmäler nur in geringem Maß eigentliche Rechtssatzungen (durch den Willen des Staats geschaffene neue Rechtssätze), sondern zum weit überwiegenden Teil nur Fixierungen des geltenden Gewohnheitsrechts zu sein pflegen, mögen dieselben nun lediglich der Privatarbeit einzelner Rechtskundigen ihr Dasein verdanken oder von solchen im Auftrag der Staatsgewalt hergestellt und von letzterer verfassungsmäßig bestätigt worden sein. So ist es z. B. für die römische Zwölftafelgesetzgebung als das Wahrscheinlichere zu bezeichnen, daß die in ihr enthaltenen Sätze größtenteils Fixierungen alten Gewohnheitsrechts und nicht (wie die römische Überlieferung berichtet) aus dem Ausland hergeholte Rechtssätze sind. Deutlicher läßt sich die Entwickelung des Volksrechts bei den germanischen Stämmen verfolgen. Hier zeigt sich eine wesentliche Verschiedenheit zwischen den Nordgermanen (Schweden, Dänen, Norweger und Isländer) und den südgermanischen, später zur fränkischen Monarchie vereinigten Völkern. Bei den letztern, für welche die Zeit der Rechtsaufzeichnungen um 450 beginnt und ungefähr 850 endigt, lag der treibende Impuls zur Fixierung ihres Gewohnheitsrechts in ihrer Berührung mit der christlich-römischen Kultur nach Abschluß der Völkerwanderung. Dies zeigt sich sowohl in der Reihenfolge, in welcher die einzelnen hierher gehörigen Stammesrechte aufgezeichnet worden sind, als in dem Umstand, daß diese Aufzeichnung in lateinischer Sprache erfolgte. Die Rechte dieser Stämme nennen wir im engern Sinn die Volksrechte; in ihrer Gesamtheit heißen sie die Leges barbarorum im Gegensatz zu der Lex romana oder den Leges Romanorum, als dem Rechte der unter diesen germanischen Stämmen nach eignen Gesetzen fortlebenden Römer, und den für dieses veranstalteten besondern Rechtssammlungen, nämlich der für die Römer im westgotischen Reich bestimmten Lex romana Visigothorum, auch Breviarium Alaricianum genannt (s. Breviarium), vom Jahr 506 und der von Gundobad von Burgund ungefähr zu derselben Zeit erlassenen Lex romana Burgundionum (s. unten). Die einzelnen Stammesrechte selbst bezeichnen sich als Ewa (d. h. Recht überhaupt, insbesondere Gewohnheitsrecht), Lex, Pactum (Vereinbarung, nämlich der Volksgenossen), Edictum. Sie sind insgesamt, wie schon diese Bezeichnungen erkennen lassen, nicht bloße Privatarbeiten, sondern offizielle Rechtssammlungen, teils aus der Initiative des Volkes hervorgegangen, teils von demselben auf Vorschlag des Königs genehmigt. Von modernen Gesetzbüchern unterscheiden sie sich dadurch, daß sie nicht ein völlig neues Recht an Stelle des bisher geltenden setzen, sondern teils nur das bestehende Gewohnheitsrecht (und zwar nur, insoweit dies praktisch notwendig schien) fixieren wollen, teils, soweit sie wirkliche Satzungen enthalten, doch nur das bestehende Recht bestätigen. Ihr vorwiegender Gegenstand ist Straf- und Prozeßrecht, weniger enthalten sie bürgerliches Recht und Staatsrecht. Die Geltung dieser Stammesrechte beschränkt sich auf den betreffenden Stamm, doch bildete sich innerhalb der fränkischen Monarchie der Grundsatz aus, daß jeder Angehörige der zu derselben vereinigten Stämme auch außerhalb seiner Stammesheimat nach seinem Recht behandelt werde (sogen. Personalitätsprinzip). Innerhalb dieser Rechte lassen sich zeitlich und verwandtschaftlich gewisse Gruppen sondern. Die vermutlich ältesten Rechtsaufzeichnungen sind bei den Westgoten erfolgt, wo jedenfalls bereits König Eurich (466–484) in umfassenderer Weise als Gesetzgeber aufgetreten ist (über die spätern Sammlungen westgotischer Gesetze vgl. Goten, S. 539). Seine Rechtssammlung scheint nicht ohne Einfluß geblieben zu sein auf die älteste Redaktion der Lex Salica (s. Salisches Gesetz), ist aber zweifellos benutzt worden bei Abfassung der um 501 entstandenen Lex Burgundionum (s. Burgundische Gesetzbücher) und besonders bei der zwischen 744 und 748 für den damals zum fränkischen Reiche gehörenden bayrischen Stamm gegebenen Lex Bajuwariorum (Ausgabe von Merkel in den „Monumenta Germaniae“, Leges III). Die Lex Salica wiederum hat zum Vorbild gedient bei der Abfassung des Gesetzbuchs der ripuarischen Franken, deren älteste uns erhaltene Salbungen noch dem 6. Jahrh. angehören (Ausgabe der Lex Ripuaria von Sohm in den „Monumenta Germaniae“, Leges V), und gleichfalls unter fränkischem Einfluß stehen die alemannischen Gesetzbücher, nämlich der zwischen 600 und 650 entstandene Pactus Alemannorum sowie die umfassendere, wahrscheinlich 717–719 von Herzog Lantfrid erlassene Lex Alemannorum. Der gesetzgeberischen Thätigkeit Karls d. Gr., welcher [269] die Abfassung von Gesetzbüchern für alle diejenigen zum fränkischen Reiche gehörenden Stämme befahl, welche noch keine geschriebenen Rechte besaßen, verdanken wohl ihre Entstehung die Lex Frisionum (s. Friesisches Recht), obwohl diese mehr den Charakter einer Privatkompilation trägt und daher wohl als eine bloße Vorarbeit anzusehen ist, ferner die sogen. Ewa Chamavorum (Ausgabe von Sohm in den „Monumenta Germaniae“, Leges V), d. h. das Rechtsbuch der am Niederrhein und an der Yssel wohnenden chamavischen Franken, endlich die vielleicht auf dem Reichstag zu Aachen 802 sanktionierte Lex Saxonum (Ausgabe von Richthofen in den „Monumenta Germaniae“, Leges V; Derselbe, Zur Lex Saxonum, Berl. 1868) und die aus derselben Zeit stammende Lex Angliorum et Werinorum (Ausgabe von Richthofen a. a. O.), d. h. das Gesetzbuch der im Gebiet der Unstrut wohnhaften Angeln und der zwischen Saale und Elster wohnenden Warnen. Außerhalb dieses historischen Zusammenhangs steht die älteste Aufzeichnung des langobardischen Rechts, das 643 von König Rotheri erlassene Edictum Langobardorum (s. Langobardisches Recht); doch zeigt dieses manche aus den frühern Sitzen der Langobarden an der Niederelbe erklärliche Übereinstimmung mit der Lex Saxonum und mit den Rechten der Angelsachsen, daneben auch eine gewisse noch nicht aufgeklärte Verwandtschaft mit den skandinavischen Rechten. Nicht eigentlich zu den Leges barbarorum gehören die ostgotischen, von Theoderich d. Gr. zwischen 511 und 515 und dessen Enkel Athalarich erlassenen Edikte, da dieselben sowohl für Goten als für Römer Geltung hatten. Über die angelsächsischen Gesetze, welche außerhalb dieser Entwickelung stehen und die einzigen Rechtsdenkmäler der Deutschen älterer Zeit in deutscher Sprache sind, auch rein deutsches Recht frei von allen Einflüssen des römischen Rechts enthalten, vgl. den Artikel Angelsachsen. Wie die Geltung des westgotischen Gesetzbuchs das Bestehen des westgotischen Reichs überdauerte und die Lex Burgundionum auch durch die Einverleibung Burgunds in die fränkische Monarchie nicht aufgehoben wurde, so blieben die im fränkischen Reich für die einzelnen Stämme entstandenen Rechte auch nach Auflösung des fränkischen Reichsverbandes als persönliche Rechte dieser Volksgenossen fortbestehen. Erst das sich mehr und mehr entwickelnde Lehnswesen und die sich ändernden ständischen Verhältnisse wirkten der Geltung der Volksrechte entgegen. An Stelle des Personalitätsprinzips (s. oben) entwickelte sich mehr und mehr das Territorialitätsprinzip. Vom Ende des 9. bis zum 15. Jahrh. treten an Stelle der Volksrechte die Land- und Lehnrechte.

Im Gegensatz zu diesen Volksrechten der südgermanischen Völker zeigten die der Nordgermanen eine durch keine Einflüsse fremder Kultur bestimmte Entwickelung. Ihre schriftliche Aufzeichnung ist in verhältnismäßig später Zeit erfolgt: für Norwegen führt die Überlieferung auf das 9. Jahrh. als Anfangspunkt der Zeit geschriebener Rechtsquellen, für Island auf das 10., für Schweden und Dänemark erst auf das 13. Jahrh. Aber wegen der nationalen Unabhängigkeit der nordischen Rechtsquellen bilden die aus ihnen zu ziehenden Rückschlüsse eins der wichtigsten wissenschaftlichen Hilfsmittel zur Erforschung der ältesten deutschen Rechtsgeschichte.