Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Vitrit“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 953954
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Vitrit. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 953–954. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Vitrit (Version vom 09.01.2023)

[953] Vitrit. Abgesehen von der Verglasung der Fenster hat Glas bisher in der Architektur nur wenig Verwendung gefunden. Auf der Pariser Ausstellung hatte Ballu für die Argentinische Republik einen Pavillon erbaut, der zum großen Teil mit gepreßten Glasornamenten bekleidet war. Abends wurden die großen Diamantquadern aus Glas, welche, zwischen Eisenrahmen eingespannt, die Lisenen und Pilaster bildeten, von innen her elektrisch erleuchtet. Dieser Versuch hat, soweit bekannt, keine Nachahmung in größerm Maßstabe gefunden, wahrscheinlich weil die Sprödigkeit und der hohe Preis des Glases hindernd im Wege standen. Eine neue Verwendungsart des Glases für die Architektur ist nun durch die Glashütte Karlswerk bei Bunzlau angebahnt worden. Es handelt sich hierbei um ein Material, den V., bei welchem alle guten Eigenschaften des Glases, die Durchsichtigkeit freilich in beschränktem Maße, zur Geltung kommen, während die Sprödigkeit nicht in Betracht kommt, und der Preis ein sehr mäßiger ist. Zur Herstellung des Vitrits wird eine thunlichst dünne und auf einer Seite möglichst stark gerauhte Glasplatte von beliebiger Form mit einem Falzrande umgeben, so daß ein flacher Kasten entsteht, dessen Boden die Glasplatte bildet. Dieser Kasten wird unter tüchtigem Rütteln mit einer kaltflüssigen Kunststeinmasse gefüllt, die man 48 Stunden an der Luft, dann, soweit zementhaltige Massen in Betracht kommen, 8 Tage unter Wasser erhärten läßt. Die Kunststeinmasse besteht entweder aus 10 Teilen scharfem Sand, 3 Teilen zerfallenem Ätzkalk, 2 Teilen Kalksteinpulver, angerührt mit Natronwasserglas von 33° B., welches mit dem doppelten Volumen Wasser verdünnt ist, oder aus 1 Teil Portlandzement, 1 Teil Romanzement, 6 Teilen scharfem Sand und 0,1 Teil Natronwasserglas. Für gewisse Zwecke ist die Verstärkung der Kunststeinschicht durch Drahteinlagen in Aussicht genommen. Der V. besitzt eine überraschende Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse. Die Glasfläche zeigt sich gegenüber mechanischen Insulten dauerhafter als polierter Granit. Sehr starke Schläge mit einem Stahlhammer durchlochten das Glas, ohne jemals den kleinsten Seitenriß zu erzeugen. Die Kunststeinschicht zeigt eine Druckfestigkeit bis zu 200 kg auf 1 qcm, und mit dieser Schicht ist das Glas auf das Innigste verwachsen. Die Widerstandsfähigkeit gegen Nässe, Frost und Hitze ergibt sich aus den bekannten [954] Eigenschaften der beiden in Frage kommenden Materialien ganz von selbst. In ornamentaler Wirkung erreicht, ja übertrifft V. die polierten Steine, und trotz seiner höhern Dauerhaftigkeit kostet er nur ganz bescheidene Bruchteile von den Preisen jener. Die Glashütte liefert Vitritplatten bis zu 1,5 qm und mehr Oberfläche, anderseits Verblendziegel bis 12 × 6,5 × 6,5 cm herunter. Die mehr oder minder große Durchsichtigkeit der weißen oder farbigen Glasschicht tritt in der vorteilhaftesten Weise in die Erscheinung. Während die Oberfläche Hochglanz besitzt, ist bei Verblendern die Grenzfläche zwischen Stein und Glas durch ein eigenartiges Preßverfahren reich gemustert und farbig verziert. Durch den Wechsel in der Dicke des Glases, welchen das plastische Ornament bedingt, treten aus dem Innern der Glasschicht wechselnde Farben und Blitzlichter hervor. Daß es bei solchen Mitteln leicht ist, eine gewichtige, prächtige und dabei doch edle Wirkung zu erzielen, liegt auf der Hand. In die Vitritplatten können metallene Schraubenmuttern, Ösen, Haken etc. mühelos fest eingefügt werden, so daß die Möglichkeit geboten ist, kleine Baulichkeiten schnell zu errichten, nötigen Falls ebenso schnell abzubrechen und anderwärts aufs neue aufzustellen. Die Glasfläche läßt sich selbstverständlich mit den gebräuchlichen Mitteln der Glastechnik vielfach ornamentieren. Es läßt sich Überfangglas, Ätzung, Mattierung und Gravierung mit dem Sandstrahlgebläse, Vergoldung der mattierten Flächen etc. beliebig anwenden. Die Verwertung des Vitrits ist eine ungemein vielseitige, sowohl an Fassaden als in Innenräumen, und neben der ästhetischen Wirkung ist ganz sicher auch die hygienische nicht gering anzuschlagen, da sich Glasflächen jedenfalls leichter desinfizieren lassen als der beste Ölanstrich.